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Mit den Augen eines Kindes

Mit den Augen eines Kindes

Titel: Mit den Augen eines Kindes
Autoren: Hammesfahr Petra
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Stunden.
    Er war überhaupt nicht müde, viel zu aufgeregt, viel zu besorgt, weil er nicht wusste, was Rex mit Mama gemacht hatte. Er wartete auf Papa, hatte keine Vorstellung von der Entfernung, die ein Auto in stundenlanger Fahrt zurücklegte, war überzeugt, dass Papa ihn suchen und natürlich auch finden würde. In den Filmen, die er bei Opa gesehen hatte, waren am Schluss immer Polizisten gekommen, hatten die Verbrecher verhaftet oder totgeschossen und die Leute befreit. Decken hatten sie den Leuten um die Schultern gelegt. Das brauchten sie bei ihm nicht zu tun, er hatte ja sein Laken.
    Die Wartezeit vertrieb er sich damit, seine Fesseln loszuwerden. Beim Mund war es einfach, weil seine Hände nicht auf dem Rücken zusammengeklebt waren. Er konnte das Klebeband leicht abreißen. Dann machte er sich mit den Zähnen über die Umwicklung der Handgelenke her. Das dauerte eine Weile, aber er schaffte es. Bei den Füßen war es danach nicht mehr so schwer.
    Rundum war es immer noch still. Und in dem Zimmer sehr warm. Sein Mund war ganz trocken, und er wusste schließlich, wie gefährlich es war, wenn kleine Jungs nichts zu trinken bekamen; auch wenn er sich nicht mehr für so klein hielt und nicht in einem brütend heißen Auto gefangen war, ein bisschen Sorge machte ihm das schon. Vorsichtig begann er, seine Umgebung zu erkunden, tastete über den Boden und kroch, um nicht über irgendetwas zu stolpern, hinzufallen und Rex oder den kleinen Mann mit dem Gepolter aufzuwecken.
    Auf dem Boden war nur Staub und an den Wänden nur die Durchreiche zur Küche und eine Glastür. Daneben befand sich ein Gurt. Er zog einmal behutsam, aber dennoch feste daran und schaffte damit ein paar Schlitze in dem herabgelassenen Rollladen. Nun fiel etwas Tageslicht herein. Er sah die Tür, durch die er hereingetragen worden war, aber die war abgeschlossen, das wusste er, hatte gehört, wie der Schlüssel gedreht wurde.
    Da er weiter nichts tun konnte als auf Papa warten, setzte er sich auf sein Laken, zeichnete mit einem Finger ein paar Figuren in den Staub. Und um sich den Durst erträglich zu machen, tauchte er für ein Weilchen mit Roter Oktober durch die Weltmeere. Er war Kapitän Ramius und sagte: «Geben Sie mir ein Ping, Wassili, und bitte nur ein einziges.»
    Irgendwann hörte er Stimmen und Schritte. Die Männer waren aufgewacht, gingen in die Küche, schalteten einen Fernseher ein und unterhielten sich. Er verstand jedes Wort, hörte sogar seinen Namen. Dann fuhr einer weg, um etwas zu essen zu holen. Rex wollte eine große Pizza mit viel Schinken und Schampus, was immer das sein mochte. Er hatte auch Hunger und schrecklichen Durst. Aber er wagte es nicht, sich bemerkbar zu machen.
    Der Fernseher lief die ganze Zeit und erlaubte ihm, die Stunden zu verfolgen. Es war ein Nachrichtensender eingeschaltet. Zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr hörte er ein Auto kommen und anhalten. Das musste Papa sein. Er wartete darauf, das Brechen einer Tür zu hören und Papas Stimme:
    «Hände hoch, jeder Widerstand ist zwecklos.»
    Aber stattdessen fragte Rex: «Wo hast du dich rumgetrieben? Noch ein Nümmerchen eingeschoben?»
Und die böse Frau antwortete: «Sei froh, dass ich es überhaupt noch geschafft habe. Mir ist so ein Blödmann ins Auto gefahren, ich musste mir ein neues besorgen. Mit dem Geld hat es auch nicht geklappt. Ich hab dir gleich gesagt, so funktioniert das nicht. Wahrscheinlich hat sich irgendein Junkie die Schachtel geschnappt. Als ich anrief, hatte ich jedenfalls so einen bekifften Typen in der Leitung.»
«Scheiß drauf», sagte Rex. «Es reicht für den Anfang.»
«Wo ist der Junge?», fragte die Frau.
Darauf bekam sie keine Antwort, wahrscheinlich zeigte nur einer zum Nebenraum. Und dann kam sie zu ihm. Er wickelte sich das Laken um die Schultern und drückte sich in die Ecke. Das half ihm nicht, weil durch die Schlitze im Rollladen immer noch Tageslicht einfiel. Abgesehen davon hing an der Decke eine Glühbirne, und sie schaltete das Licht ein.
Sie hatte eine Dose und ein Stück Pizza in den Händen. Die Dose nahm er, schlürfte gierig einen Rest Cola. Das Pizzastück lehnte er ab, obwohl er so großen Hunger hatte. Aber er hatte auch seinen Stolz, und von dem Stück hatte jemand abgebissen.
«Ich esse nichts, was schon einer gegessen hat», sagte er.
«Pech für dich», meinte sie, ließ das Stück auf den Boden fallen und ging zurück zur Tür. «Dann stirbst du eben mit leerem Bauch.»
«Frau!», rief er ihr nach,
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