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Mit den Augen eines Kindes

Mit den Augen eines Kindes

Titel: Mit den Augen eines Kindes
Autoren: Hammesfahr Petra
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Augen fest zu, damit es so aussah, als schliefe er längst. Mama machte die Wohnungstür auf und lief zum Schlafzimmer. Sie sah nicht, wer hereinkam, aber er sah es. Es war nicht Papa. Es waren zwei Verbrecher, ganz schlimme Verbrecher, das wusste er genau, weil er gesehen hatten, wie sie der Mutter von seinem Freund wehtaten.

ERSTER TEIL
MARENS LOVER
    Es war ein regnerischer Mittwoch Anfang Mai, als mein Sohn zum ersten Mal mit einem der gefährlichsten Raubtiere konfrontiert wurde, das vor vielen Millionen Jahren die Erde unsicher gemacht hatte. Es hieß Scharfzahn, war der König der Urzeit. Ein Tyrannosaurus Rex, der alles verschlang, was ihm vor die Füße geriet. Es soll ja noch viel gefährlichere gegeben haben, auch damals schon und später ganz bestimmt. Denen begegnete er dann auch noch.
    Aber welcher Erwachsene hätte ihm das auf Anhieb geglaubt und ernsthaft in Betracht gezogen, ein fünfjähriger Junge könnte – gute zwei Wochen nachdem er einen Zeichentrickfilm gesehen hatte –, ein reales Monster bei einem Verbrechen beobachtet haben und nun selbst in Lebensgefahr schweben?
    Ich will mich damit nicht entschuldigen, weiß Gott nicht. Was ich angerichtet und versäumt habe, ist nicht zu entschuldigen. Für meinen Kleinen war ich der Größte, Papa eben, der alles heile machte und alles richten konnte. Er lebte in der festen Überzeugung, ich könne Ordnung in der Welt schaffen, die Bösen hinter Gitter bringen und dafür sorgen, dass die Guten in Frieden leben durften. «Mein Papa ist Polizist!» Wenn er das sagte, klang es nach Intensität, nach Supermann. Das war ich auch für ihn. Und als er mich wirklich brauchte, war ich nicht da. Ich hatte ihm nicht einmal richtig zugehört, solange vielleicht noch Zeit gewesen wäre, das Schlimmste zu verhindern.
    Oliver – Olli, so nannte ich ihn oft, obwohl er das gar nicht mehr gerne hörte, seit er bei meinen Eltern ein Video von Dick und Doof gesehen hatte – war mit einer überschäumenden Phantasie gestraft. Manche behaupteten schlicht und ergreifend: «Er lügt das Blaue vom Himmel runter.» Das tat er eigentlich nicht. Es war nur so, dass er seine täglichen Berichte mit ein paar effektvollen Details würzte, um seinen Alltag etwas farbiger zu präsentieren und vor dem Einschlafen mindestens noch eine halbe Stunde Zeit herauszuschinden.
    Wenn er den Nachmittag bei meinen Eltern verbracht hatte, musste man sich nur fragen, welchen Film Opa in seinen Videorecorder geschoben hatte, während Oma Einkäufe machte und dabei ein kleines Schwätzchen einlegte oder schnell auf einen Sprung zu einer ihrer zahlreichen Bekannten ging, was dann meist den ganzen Nachmittag in Anspruch nahm, sodass sie daheim nicht eingreifen konnte.
    Die Videosammlung im Wohnzimmerschrank meiner Eltern war beachtlich. Mein älterer Bruder hatte sein Wohnzimmer sofort nach seiner Hochzeit mit zwei Recordern ausgestattet und war lange Jahre Stammgast in der Videothek gewesen. Er hatte sehr jung geheiratet. Und was soll man sonst anfangen mit seiner Freizeit? Mein Bruder kopierte für sich, seinen Nachwuchs und den Rest der Familie alles, was flimmerte. Ob man wollte oder nicht, man bekam eine Kopie in die Hände gedrückt.
    Mein Vater wollte immer. Er liebte Helden, Katastrophen, so genannte Thriller. Ob sie in den siebziger, achtziger oder neunziger Jahren gedreht worden waren, spielte überhaupt keine Rolle. Er konnte sich Streifen, die er längst auswendig kannte, auch beim fünfzigsten Mal noch mit Genuss reinziehen. Vielleicht machte das sogar den besonderen Reiz aus, genau zu wissen, was in der nächsten Sekunde passieren würde, Dialoge mitzusprechen oder vorherzusagen. Und warum sollte man einem kleinen Jungen, der sich ebenfalls dafür begeistern konnte, keine Spur von Furcht zeigte und nicht zu Albträumen neigte, diesen Genuss vorenthalten?
    Olli kannte sie alle: die tapferen Feuerwehrmänner aus Flammendes Inferno, den wasserscheuen Polizeichef aus Der weiße Hai. Unzählige Stewardessen, die über sich selbst hinauswuchsen und einen schwer beschädigten Flieger mitsamt überlebenden Passagieren und toten Piloten sicher wieder auf die Erde brachten. All die abgesoffenen U-Boote, deren Besatzungen nur noch teilweise mit einem DSRV gerettet werden konnten. Und nicht zu vergessen: Kapitän Ramius, der mit seinem Großvater an einem Fluss geangelt hatte und nun dieses Prachtexemplar Roter Oktober sicher durch Unterseegräben schipperte.
    Ein verantwortungsloser Großvater?
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