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Mit den Augen eines Kindes

Mit den Augen eines Kindes

Titel: Mit den Augen eines Kindes
Autoren: Hammesfahr Petra
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PFINGSTSONNTAG, 8. JUNI 2003
    Es war eine schlimme Nacht, er konnte gar nicht schlafen, weil so viel passierte und er nicht wusste, was es bedeutete. Zuerst klingelte im Wohnzimmer das Telefon. Dann fuhr Papa weg. Und Mama weinte – ganz lange. Wie lange, ließ sich nicht feststellen. Er konnte zwar schon die Uhr lesen, aber er hatte keine, war erst fünf – im März geworden.
    Ein kleiner Widder war er, äußerst phantasiebegabt, dafür musste sein Aszendent verantwortlich sein, doch von solchen Dingen hatte er keine Ahnung. Ein bisschen dickköpfig und überaus durchsetzungsfähig war er auch. Normalerweise gab er den Ton an; in seiner Kindergartengruppe, bei seinem Freund Sven, bei Oma und Opa. Bei Mama und Papa nicht so sehr, vor allem Mama ließ sich ganz gemeine Methoden einfallen, um ihm Paroli zu bieten, Stubenarrest oder Fernsehverbot. Manchmal konnte er sie deswegen gar nicht gut leiden. Aber weinen hören konnte er sie auch nicht.
    Es verursachte ihm ganz neue Gefühle, Herzklopfen und Enge im Bauch. Angst, aber die hätte er niemals zugegeben. Er hatte noch nie richtige Angst gehabt und musste auch keine haben. Sein Papa war nämlich Polizist, konnte alle schlimmen Verbrecher verhaften, sogar totschießen lassen. Bestimmt war Papa nochmal zur Arbeit gefahren. In den letzten Tagen hatte er viel arbeiten müssen, war spät nach Hause gekommen oder nochmal weggefahren, wenn es schon dunkel war. Da sein Zimmer gleich neben der Wohnungstür lag, hörte er gut, wenn Papa kam oder ging. Auch wenn er schon schlief, hörte er das. Und jetzt konnte er nicht schlafen, weil das Weinen kein Ende nahm.
    Als er es nicht mehr aushielt, stand er auf und tat so, als müsse er nochmal Pipi. Mama war im Badezimmer, kniete in der Wanne. Das tat sie immer, wenn sie sich mit der Brause die Haare wusch oder den Badeschaum vom Rücken spülte. Aber jetzt hielt sie die Brause nicht in der Hand. Ihre Augen waren ganz rot, ihr Gesicht verquollen.

    «Warum weinst du denn so?», fragte er.
    «Ich hab Seife ins Auge gekriegt», schniefte sie. Das war gelogen, er wusste das genau. Zwar brannte es
    höllisch, wenn man Seife ins Auge bekam. Aber wenn Mama sich wehtat, weinte sie nicht. Sie fluchte immer. «Mist», oder so. Und wenn Erwachsene nicht die Wahrheit sagten, das wusste er auch genau, Opa hatte es ihm erklärt, dann schämten sie sich, oder sie hatten Angst.

    Dass Mama sich schämte, konnte er sich nicht vorstellen
    – schon eher, wovor sie Angst haben könnte. Dass Papa nicht mehr wiederkam, weil Papa ein Weib fickte, was immer das auch sein mochte. Den Ausdruck hatte er bei Oma und Opa aufgeschnappt, aber Opa hatte ihm nicht erklären wollen, was es hieß. Und Oma hatte nur gesagt: «Dieses Weib kann gar nichts anderes als kaputtmachen.»

    «Geh wieder ins Bett», verlangte Mama.
    «Ich muss mal», behauptete er, was auch ein bisschen gelogen war. Aber wirklich nur ein bisschen, als er sich aufs Klo setzte, kamen ein paar Tröpfchen.
    Und als er die Hose wieder hochzog, fragte Mama: «Magst du bei mir schlafen?»
    Er schüttelte heftig den Kopf, hatte noch nie bei ihr geschlafen. Er hätte sich ja in Papas Bett legen müssen. Wo sollte Papa denn schlafen, wenn er nach Hause kam? Er ging zurück in sein Zimmer, die Tür ließ er offen. So
    hörte er, dass Mama sich die Zähne putzte und ins Schlafzimmer ging. Sie weinte nicht mehr.
    Eine Weile war es still in der Wohnung und dunkel natürlich. Er wäre beinahe eingeschlafen, aber dann klingelte noch einmal das Telefon. Mama stand wieder auf und ging ins Wohnzimmer. Mit wem sie telefonierte, erfuhr er nicht, hörte nur, was sie sagte. «Nein, ich hab noch nicht geschlafen.» Dann fragte sie: «Wo bist du denn?» Und sagte noch: «Gut, ich warte.»
    Er dachte, dass Papa angerufen hätte, um zu sagen, dass er bald nach Hause käme. Mama ging ins Bad, er hörte Wasser rauschen, bis es an der Tür klingelte. Ob Papa seinen Schlüssel vergessen hatte? Mama kam eilig durch die Diele, sie hatte nur ein Höschen an, nachts hatte sie immer nur Höschen an. Sie nahm den Hörer von der Gegensprechanlage, drückte dabei den elektrischen Türöffner und fragte: «Ist offen?» Und eine verzerrte Stimme sagte: «Ja», nicht mehr und nicht weniger.
    Papa. Es musste Papa sein, wer sollte denn sonst kommen mitten in der Nacht? Er war so froh in dem Moment, spürte, wie die Enge aus seinem Bauch verschwand. Sein Herz tat noch ein paar schnelle Schläge und beruhigte sich auch. Er machte die
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