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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie
Autoren: Gerald Hartung
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Was ist philosophische Anthropologie?
    Eine Einführung zum Thema philosophische Anthropologie muss zu Beginn Rechenschaft darüber geben, ob sie sich eher vom Begriff und von der Wissensdisziplin oder von der Sache des Denkens leiten lässt. Es besteht durchaus eine Differenz zwischen einem Philosophieren vom Menschen aus und einem Fragen nach dem Menschen als Gegenstand der Wissenschaft. Die Spannung zwischen diesen Sichtweisen ist nicht zu leugnen und soll in diesem Band berücksichtigt werden. Die philosophische Anthropologie war und ist, so viel darf vorausgeschickt werden, die philosophische Disziplin mit dem Anspruch, den Menschen als Fragenden und Objekt der Befragung in eine Synthese zu fassen.
    Ein kurzer Blick in die wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Zusammenhänge gibt hier einen ersten Eindruck. Vor allem die begriffsgeschichtlichen Daten geben einen verlässlichen Anhaltspunkt. Von »Anthropologie« ist seit dem 16. Jahrhundert innerhalb der deutschen Schulphilosophie und im Horizont neostoischer Philosophie die Rede. Hier zeigt sich, dass die Anthropologie als Wissensdisziplin einhergeht mit der Frage: Wie ist der Mensch zu bestimmen, wenn die Metaphysik nicht mehr und die moderne Naturwissenschaft noch nicht ein zureichendes Paradigma liefern? Die Antwort auf diese Frage erfolgt nicht in Definitionen, sondern in ausführlichen Beschreibungen der Natur des Menschen und seiner Lebenserfahrung. Es geht, wie Michel de Montaigne (1533–1592) es anschaulich gemacht hat, zugleich um Selbsterfahrung und Menschenkenntnis. Festzuhalten ist zudem die Spannung zwischen einer überkommenen und einer erst zu gewinnenden Perspektive, einem »nicht mehr« und »noch nicht«, die für das [10] anthropologische Denken über die Epochen hinweg charakteristisch ist. In Zeiten des Übergangs wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, so auch in unserer Gegenwart.
    Für eine Bestimmung unserer gegenwärtigen Situation ist es notwendig, den Blick gut hundert Jahre zurückzuwerfen. Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Begriff »philosophische Anthropologie« entwickelt, ist die Situation zwar vergleichbar mit derjenigen der frühen Neuzeit, aber sie ist auch ungleich komplexer. Um es auf eine Formel zu bringen, ist »Natur« kein stoisches Konzept mehr, sondern ein darwinsches. Hinzu kommt, dass die Ausdifferenzierung der Wissenschaften vom Menschen vorangeschritten ist und infolge der Abkehr von der Philosophie als Leitdisziplin ein gemeinsamer Referenzrahmen fehlt. Zudem verweist die individuelle Lebenserfahrung im Zeitalter der sozialen und politischen Katastrophen auf ein zumeist erschütterndes Bild, das jede allgemein verbindliche Aussage zur Menschenkenntnis infrage stellt. In diesem Kontext ist auch die Entstehungsgeschichte der philosophischen Anthropologie vom Bewusstsein getragen, durch den Verlust von Denktraditionen und den Zusammenbruch von Weltanschauungen an einem Wendepunkt der Geschichte zu stehen, der in seiner Unausweichlichkeit jeden Vergleich mit anderen Epochen der Sozial- und Geistesgeschichte außer Kraft setzt. Max Scheler (1874–1928) bringt diesen Befund auf die Formel, dass »zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart« (Scheler 1927, 162).
    Dieses Krisenszenario steht am Anfang der philosophischen Anthropologie als Wissensdisziplin, die nicht mit dem Anspruch antritt, die anderen Wissenschaften vom Menschen zu ergänzen, sondern sich schon bei Scheler anschickt, »zum Titel für die amtierende Grundphilosophie« (Marquard 1982, 123) zu werden. Aber diese Emphase verstellt auch unseren Blick. Andere Denker – von Bernhard Groethuysen bis zu Michael Landmann – vertreten nämlich die Ansicht, dass es [11] weder einen radikalen Epochenumbruch gibt noch die philosophische Anthropologie als vermeintliche Antwort auf einen solchen eine erste Wissenschaft vom Menschen sein soll. Ihrer Ansicht nach erschöpft sich die Funktion anthropologischen Denkens sowohl in der frühen Neuzeit als auch in der Moderne darin, dass sie eine Antwort auf die für den Menschen entstehende Anforderung gibt, die mit der Umbesetzung im Konzept »Natur« einhergeht. Es geht um ein neues Konzept vom Menschen. Statt einer Selbstdramatisierung und Selbstüberhöhung der Gegenwart im Vergleich zu vergangenen Zeiten das Wort zu reden, wird hier die These vertreten, dass der Mensch auf jedem Niveau seiner kulturellen Entwicklung ein Bewusstsein
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