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Die Heilerin - Roman

Titel: Die Heilerin - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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Erstes Kapitel
    E ier zu klauen ist erheblich schwerer, als das ganze Huhn zu stehlen. Bei Hühnern muss man sich nur eine Henne schnappen, sie in einen Sack stopfen und das Weite suchen. Geht es aber um Eier, muss man eine Hand unter das schlafende Huhn schieben. Hühner mögen das nicht. Sie wachen erschrocken auf und fangen an, einem Löcher in die Arme oder, wenn es in Reichweite ist, das Gesicht zu picken. Und sie kreischen irgendwas Furchtbares.
    Der Trick ist, das Huhn erst zu wecken und dann die Eier einzusammeln. Ich geniere mich zu sagen, wie lange ich gebraucht habe, um das herauszufinden.
    »Guten Morgen, kleine Henne«, säuselte ich leise. Das Huhn erwachte blinzelnd, legte den Kopf schief und musterte mich. Es kam gar nicht dazu zu kreischen, es flatterte nur ein wenig mit den Flügeln, als ich es von seinem Nest hob, beruhigte sich aber gleich, als ich es unter meinen Arm klemmte. Diesen Trick hatten mir ein paar Jungs verraten, mit denen ich in der Vorwoche Fisch abgeladen hatte.
    Neben mir ertönte eine Stimme. »Keine Bewegung.«
    Zwei Worte, die man ungern hört, wenn man das Huhn einer anderen Person unter dem Arm hält.
    Ich erstarrte. Das Huhn nicht. Seine schuppigen Füße schlugen auf die Eier ein, die mein Frühstück hätten darstellen sollen. Ich blickte auf und sah einen niedlichen Nachtwächter vor mir, kaum älter als ich, sechzehn vielleicht. Die Nacht war schwüler als üblich, aber eine sanfte Brise strich durch sein sandfahles Haar. Militärischer Schnitt, aber einen oder zwei Monate zu lange gewachsen.
    Bleib ruhig, bleib wachsam. Wie Großmama stets zu sagen pflegte: Wenn man dich mit dem Kuchen erwischt, kannst du ebenso gut ein Stück anbieten. Ich bin allerdings nicht sicher, inwieweit sich das auf Hühner anwenden lässt.
    »Frühstücken wir zusammen, wenn deine Schicht vorbei ist?«, fragte ich. Bis zum Sonnenaufgang waren es noch zwei Stunden.
    Er lächelte, richtete aber trotzdem ein Rapier auf meine Brust. Schon nett, im Mondschein von einem hübschen Jungen angelächelt zu werden, aber das hier war ein trauriges Tut-mirleid-ich-mache-nur-meine-Arbeit-Lächeln. Zwischen verschiedenen Arten des Lächelns zu unterscheiden hatte ich erheblich schneller gelernt als diese Sache mit den Eiern.
    »Also, Heclar«, sagte er über seine Schulter hinweg, »hier treibt sich wirklich eine Diebin rum. Schätze, ich hatte unrecht.«
    Bauer Heclar trottete in mein Blickfeld. Er hatte eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit dem Huhn, das versuchte, mich zu picken - zerzaust, mit einem schnabelförmigen Zinken und kleinen Knopfaugen. Er räusperte sich und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich habe dir ja gesagt, dass meine Hühner nicht von Krokodilen gerissen werden.«
    »Ich bin kein Hühnerdieb«, sagte ich hastig.
    »Und was ist dann das?« Der Nachtwächter richtete die Spitze des Rapiers auf das Federvieh und lächelte wieder. Dieses Mal freundlicher, aber seine dunkelbraunen Augen hatten auffällig gezwinkert, als er das Handgelenk gebeugt hatte.
    »Ein Huhn.« Ich blies mir eine verirrte Feder vom Kinn und sah genauer hin. Seine Knöchel waren weiß, so hart umspannte er solch eine leichte Waffe. Das deutete auf Gelenkschmerzen hin, vielleicht sogar Knöchelbrand, auch wenn er dafür eigentlich noch zu jung war. Diese schmerzhafte Gelenkentzündung war typisch für ältere Hafenarbeiter. Ich schätze, das war der Grund, warum er so einen lausigen Job hatte und Hühner bewachen musste anstelle von Aristokraten. Aber ich selbst war schließlich auch nicht gerade vom Glück verfolgt.
    »Hör mal«, sagte ich, »ich wollte sie nicht stehlen. Ich wollte nur an die Eier.«
    Der Nachtwächter nickte, als hätte er Verständnis für mich, und drehte sich zu Heclar um. »Sie ist bloß hungrig. Vielleicht kannst du sie mit einer Verwarnung davonkommen lassen?«
    »Schnapp sie dir, du Idiot! In Dorsta wird sie schon was zu essen kriegen.«
    Dorsta? Ich schluckte. »Hör mal, zwei Eier zum Frühstück sind doch wirklich kein Grund, mich ins Gefängnis ...«
    »Diebe gehören ins Gefängnis!«
    Ich zuckte zurück, und mein Fuß glitschte in Hühnerscheiße. Massen davon. Sie troff aus jedem Korb in der Reihe. Allein auf der Seeseite der Insel standen wenigstens sechzig dieser schmutzigen Körbe. »He, ich bin bereit, für die Eier zu arbeiten. Wie wäre es mit zwei Eiern für jede gereinigte Reihe Hühnerkörbe ?«
    »Du wirst mir nur drei weitere stehlen.«
    »Nicht, wenn er Wache
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