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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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Mann im Dunkel
     
     
    Allein im Dunkel wälze ich die Welt in meinem Kopf, durchlebe den nächsten Kampf mit meiner Schlaflosigkeit, die nächste weiße Nacht in der großen amerikanischen Wildnis. Oben in ihren Zimmern schlafen meine Tochter und meine Enkelin, jede für sich: mein einziges Kind, die siebenundvierzigjährige Miriam, die seit fünf Jahren allein schläft, und Miriams einziges Kind, die dreiundzwanzigjährige Katya, die früher mit einem jungen Mann namens Titus Small schlief, aber nun ist er tot, und Katya schläft allein mit ihrem gebrochenen Herzen.
    Helles Licht, dann Dunkelheit. Sonne aus allen Winkeln des Himmels, gefolgt von der Schwärze der Nacht, den stillen Sternen, dem Wind, der sich in Zweigen regt. So geht es zu. Seit mehr als einem Jahr lebe ich in diesem Haus, seit ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Miriam hatte darauf bestanden, dass ich hierherkomme, und zunächst waren nur wir beide da, zusammen mit einer Tagesschwester, die sich um mich kümmerte, wenn Miriam arbeiten ging. Dann, drei Monate später, brach Katyas Welt in Stücke, und sie verließ die Filmakademie in New York und zog zu ihrer Mutter nach Vermont.
    Seine Eltern benannten ihn nach Rembrandts Sohn, dem kleinen Jungen auf seinen Gemälden, dem goldblonden Kind mit dem roten Hut, dem träumenden Schüler, der über seinen Aufgaben grübelt, dem Knaben, der zu einem von Krankheit verwüsteten jungen Mann heranwuchs und genau wie Katyas Titus mit Anfang zwanzig starb. Es ist ein schicksalhafter Name, ein Name, der für immer aus dem Umlauf gezogen werden sollte. Ich denke oft an Titus’ Tod, die entsetzliche Geschichte dieses Todes, die Bilder dieses Todes, seine verheerenden Folgen für meine Enkelin, aber dorthin will ich jetzt, kann ich jetzt nicht gehen, ich muss ihn so weit von mir fernhalten wie möglich. Die Nacht ist noch jung, und während ich hier auf dem Bett liege und ins Dunkel hinaufblicke, ein so schwarzes Dunkel, dass die Zimmerdecke unsichtbar bleibt, erinnere ich mich wieder an die Geschichte, die ich vorige Nacht angefangen habe. Das tue ich immer, wenn der Schlaf nicht kommen will. Ich liege im Bett und erzähle mir Geschichten. Nichts Besonderes, aber solange ich mich damit beschäftige, muss ich schon nicht an die Dinge denken, die ich lieber vergessen möchte. Allerdings fällt es mir schwer, die Konzentration zu halten, und nicht selten entfernen sich meine Gedanken schließlich von der Geschichte, die ich zu erzählen versuche, um doch wieder das zu umkreisen, woran ich nicht denken will. Dagegen ist nichts zu machen. Immer wieder scheitere ich, und nur selten obsiege ich, was nicht bedeutet, dass ich mir nicht jedes Mal die größte Mühe gäbe.
    Ich habe ihn in ein Loch gesteckt. Das schien mir ein guter Anfang, eine vielversprechende Methode, die Dinge auf ihren Weg zu bringen. Stecke einen schlafenden Mann in ein Loch und sieh zu, was geschieht, wenn er aufwacht und herauszukriechen versucht. Ich rede von einem tiefen Loch im Erdboden, drei oder vier Meter tief und kreisrund ausgehoben, mit steilen Wänden aus kompaktem Erdreich, so fest und dicht, ihre Oberfläche erinnert an gebrannten Ton, vielleicht gar an Glas. Mit anderen Worten: Der Mann in dem Loch wird nicht imstande sein, sich nach dem Erwachen daraus zu befreien. Es sei denn, er verfügt über eine Bergsteigerausrüstung – Hammer und Eisenstifte, zum Beispiel, oder ein Seil, das er als Lasso um einen Baum in der Nähe werfen könnte –, aber dieser Mann besitzt nichts dergleichen und wird die Aussichtslosigkeit seiner Lage rasch erkennen, sobald er erst einmal zu Bewusstsein gekommen ist.
    Und so geschieht es. Der Mann kommt zu sich und entdeckt: Er liegt auf dem Rücken und schaut in einen wolkenlosen Abendhimmel. Sein Name ist Owen Brick, und er hat keine Ahnung, wie er in diese Grube geraten ist, keine Erinnerung daran, in dieses zylindrische Loch gestürzt zu sein, dessen Durchmesser er auf etwa vier Meter schätzt. Er setzt sich auf. Zu seiner Überraschung trägt er eine Soldatenuniform aus grobem, graubraunem Tuch. Auf seinem Kopf sitzt eine Kappe, und seine Füße stecken in einem Paar derber, abgetragener Lederstiefel, die über den Knöcheln mit einem festen Doppelknoten verschnürt sind. Zwei Streifen an den Ärmeln der Jacke weisen den Träger dieser Uniform als jemanden aus, der den Rang eines Corporate bekleidet. Bei dieser Person könnte es sich um Owen Brick handeln, aber der Owen Brick im Loch kann sich
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