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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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nicht erinnern, jemals in einer Armee gedient oder an einem Krieg teilgenommen zu haben.
    Mangels jeder anderen Erklärung kann er nur vermuten, dass er einen Schlag auf den Kopf erhalten und vorübergehend das Gedächtnis verloren hat. Er tastet seine Kopfhaut mit den Fingerspitzen nach Beulen oder Schrammen ab, findet aber nicht die Spur einer Schwellung, keine Schnitt- oder Platzwunden, nichts, das auf irgendeine Verletzung hindeutete. Was also ist geschehen? Hat er einen lähmenden Schock erlitten, der große Teile seines Gehirns in Mitleidenschaft gezogen hat? Möglicherweise. Doch falls die Erinnerung an den Auslöser nicht plötzlich wiederkehren sollte, wird er es niemals genau wissen können. Als Nächstes befasst er sich mit der Möglichkeit, dass er zu Hause im Bett liegt und schläft, gefangen in einem übernatürlich deutlichen Traum, einem so intensiven und lebensechten Traum, dass die Grenze zum Wachzustand nahezu vollständig weggeschmolzen ist. Sollte dies der Fall sein, könnte er jetzt einfach die Augen aufmachen, aus dem Bett springen, in die Küche gehen und seinen Morgenkaffee zubereiten. Aber wie kann man seine Augen aufmachen, wenn sie schon offen sind? Er blinzelt ein paarmal in der kindischen Annahme, er könne den Bann damit brechen – aber da es keinen Bann zu brechen gibt, wird auch das Zauberbett nicht Wirklichkeit.
    Ein Schwarm Stare schweift über ihn hin, zieht fünf, sechs Sekunden lang durch sein Blickfeld und verschwindet in der Dämmerung. Als Brick sich erhebt, um seine Umgebung zu erkunden, bemerkt er einen Gegenstand, der die vordere linke Tasche seiner Hose ausbeult. Es ist ein Portemonnaie, sein Portemonnaie, und neben sechsundsiebzig amerikanischen Dollar enthält es einen Führerschein des Staates New York, ausgestellt auf einen gewissen Owen Brick, geboren am zwölften Juni neunzehnhundertsiebenundsiebzig. Damit bestätigt sich, was Brick bereits weiß: Er wird bald dreißig und lebt in Jackson Heights, Queens. Auch weiß er, dass er mit einer Frau namens Flora verheiratet ist und seit sieben Jahren in der ganzen Stadt als Profizauberer auftritt, hauptsächlich bei Kindergeburtstagen und unter dem Künstlernamen Der Große Zavello. Diese Tatsachen machen alles nur noch rätselhafter. Wenn er so genau weiß, wer er ist – wie kann er dann auf den Grund dieses Lochs geraten sein, gewandet in die, immerhin, Uniform eines Corporals, ohne Papiere, Hundemarke oder sonst einen militärischen Ausweis, der seinen Rang eindeutig belegen würde?
    Er braucht nicht lange, um die Ausweglosigkeit seiner Lage zu begreifen. Die kreisrunde Wand ist zu hoch, und als er mit dem Stiefel dagegentritt, um die Oberfläche einzukerben und sich womöglich einen Halt zum Klettern zu verschaffen, trägt er lediglich einen schmerzenden großen Zeh davon. Die Nacht senkt sich weiter herab, und es liegt ein Frösteln in der Luft, ein feuchtes, frühlingshaftes Frösteln, das in seinen Körper kriecht, und wenngleich Brick es allmählich mit der Angst zu tun bekommt, überwiegt fürs Erste seine Verwirrung. Dennoch kann er sich nicht enthalten, um Hilfe zu rufen. Bis jetzt ist alles um ihn herum still gewesen, ein Hinweis darauf, dass er sich an einem entlegenen, unbesiedelten Ort irgendwo auf dem Lande befindet, wo nichts zu hören ist als ein gelegentlicher Vogelruf oder das Rascheln des Windes. Wie auf Kommando, wie aus einer verdrehten Logik von Ursache und Wirkung heraus, bricht jedoch, kaum hat er das Wort HILFE ausgestoßen, in der Ferne Artilleriefeuer aus, und am dunklen Himmel erstrahlen Kometen der Zerstörung. Brick hört Maschinengewehre rattern, explodierende Handgranaten und, im Hintergrund, zweifellos einige Meilen entfernt, einen dumpfen Chor schreiender Menschen. Es ist Krieg, erkennt er, und er ist Soldat in diesem Krieg, jedoch ohne Waffe, ohne jede Möglichkeit, sich gegen einen Angriff zu verteidigen. Zum ersten Mal, seit er in dem Loch aufgewacht ist, empfindet er wirklich Angst.
    Die Schießerei währt noch über eine Stunde und löst sich dann nach und nach in Stille auf. Wenig später vernimmt Brick das ferne Jaulen von Sirenen, er erklärt es sich damit, dass nun Feuerwehrwagen zu Gebäuden eilen, die während des Angriffs beschädigt worden sind. Dann verstummen auch sie, und wieder senkt sich Schweigen auf ihn herab. Frierend, verängstigt und erschöpft umschreitet Brick die Grenzen seiner zylindrischen Zelle, und als am Himmel die Sterne erscheinen, streckt er sich auf
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