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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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die Ladefläche des Jeeps. Dann klettert er hinters Steuerrad und lässt den Motor an. Er salutiert zum Abschied und sagt: Dass du mir durchhältst, Soldat. Für mich siehst du zwar nicht gerade wie ein Killer aus, aber was weiß ich schon? Ich habe nie mit irgendetwas recht.
    Ohne ein weiteres Wort gibt er Gas und ist binnen Sekunden im Nebel verschwunden. Brick rührt sich nicht von der Stelle. Er friert, er hat Hunger, er ist verwirrt und verängstigt. Eine Minute, vielleicht länger, steht er mitten auf der Straße und fragt sich, was er als Nächstes tun solle. Schließlich fängt er in der eisigen Luft zu zittern an. Das hilft ihm bei der Entscheidung. Er muss in Bewegung bleiben, er muss sich aufwärmen, und so dreht er sich, ohne die leiseste Ahnung, was ihn erwartet, um, schiebt die Hände in die Taschen und beginnt seine Wanderung in Richtung Stadt.
     
     
     
    Oben ist eine Tür aufgegangen, und ich höre Schritte auf dem Flur. Ob es die von Miriam sind oder Katyas, kann ich nicht sagen. Die Badezimmertür geht auf und zu; leise, sehr leise, vernehme ich die vertraute Melodie von Pisse auf Wasser, aber wer immer da pinkelt, ist rücksichtsvoll genug, nicht auf die Spülung zu drücken und womöglich jemanden im Haus zu wecken, auch wenn zwei Drittel der Bewohner ohnehin wach sind. Die Badezimmertür geht wieder auf; vorsichtige Schritte im Flur, dann fällt die Schlafzimmertür ins Schloss. Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich sagen, es war Katya. Die arme, leidgeprüfte Katya, so schlafresistent wie ihr bewegungsunfähiger Großvater. Wie gern würde ich die Treppe hinaufgehen, in ihr Zimmer treten und eine Weile mit ihr reden. Ihr vielleicht ein paar schlechte Witze erzählen oder ihr auch nur den Kopf streicheln, bis ihre Augen zufielen und sie einschliefe. Aber wie soll ich im Rollstuhl die Treppe hochkommen? Und mit der Krücke würde ich im Dunkeln wahrscheinlich hinfallen. Dieses verdammte Bein. Die einzige Lösung wäre, mir ein Paar Flügel wachsen zu lassen, Riesenflügel mit ganz weichem weißem Gefieder. Damit wäre ich im Nu da oben.
    In den letzten zwei Monaten haben Katya und ich Stunden damit zugebracht, uns gemeinsam Filme anzuschauen. Seite an Seite hocken wir auf dem Sofa im Wohnzimmer, starren den Fernseher an, ziehen uns zwei, drei, manchmal gar vier Filme hintereinander rein, unterbrechen nur kurz, um mit Miriam zu Abend zu essen, und kehren aufs Sofa zurück, für ein oder zwei weitere Filme vor dem Schlafengehen. Eigentlich sollte ich an meinem Manuskript arbeiten, an meinen Memoiren, die ich Miriam versprochen hatte, nachdem ich vor drei Jahren in den Ruhestand getreten war: die Geschichte meines Lebens, die Familiengeschichte, die Chronik einer verschwundenen Welt. Aber in Wahrheit sitze ich lieber mit Katya auf dem Sofa, halte ihre Hand, lasse ihren Kopf an meiner Schulter ruhen und spüre, wie meine Gedanken an der endlosen Parade der Bilder auf dem Bildschirm stumpf werden. Über ein Jahr lang habe ich täglich daran gearbeitet und einen gewaltigen Stapel Papier vollgeschrieben, etwa die Hälfte der Geschichte, möchte ich meinen, vielleicht ein wenig mehr, aber jetzt habe ich wohl die Lust verloren. Vielleicht hat es angefangen, als Sonia starb, ich weiß es nicht, das Ende unseres Ehelebens, meine Einsamkeit, die verfluchte Einsamkeit, nachdem ich sie verloren hatte, und dann habe ich diesen Mietwagen zu Schrott gefahren, mir das Bein ruiniert und mich selbst fast umgebracht. Auch das mag dazu beigetragen haben: zu meiner Gleichgültigkeit, zu dem Gefühl, dass es, nach meinen zweiundsiebzig Jahren auf dieser Welt, ja doch keinen Menschen interessiert, ob ich über mich schreibe oder nicht. Mich selbst hat es jedenfalls nie interessiert, nicht einmal, als ich jung war, und ganz gewiss hatte ich nie den Ehrgeiz, ein Buch zu schreiben. Gelesen habe ich immer gern, das schon, ein Buch nach dem andern, um dann darüber zu schreiben. Aber ich war immer ein Sprinter, niemals ein Langstreckenläufer, ein Rennpferd, das vierzig Jahre lang bei Redaktionsschluss durch die Ziellinie kam, ein Fachmann, wenn es darum ging, einen Beitrag mit siebenhundert oder fünfzehnhundert Wörtern zu fabrizieren, dazu eine zweimal in der Woche erscheinende Kolumne und gelegentlich einen Artikel für die Beilage – wie viel tausend mag ich davon ausgekotzt haben? Eintagsfliegen, jahrzehntelang, Berge von verbranntem und recyceltem Papier. Anders als die meisten meiner Kollegen hatte ich nie
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