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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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näher an die Kamera heran. Alles trieft von Blut. Titus ist kein richtiger Mensch mehr. Er ist zur Idee eines Menschen geworden, ein Mensch und doch kein Mensch, ein totes, blutendes Ding: une nature morte.
    Der Mann weicht vor der Kamera zurück, und ein anderer nähert sich mit einem Messer. Und dann sticht er Titus mit raschen und präzisen Bewegungen die Augen aus.
    Die Kamera läuft noch ein paar Sekunden weiter, dann wird der Bildschirm schwarz.
    Unmöglich zu sagen, wie lange das gedauert hat. Fünfzehn Minuten. Tausend Jahre.
     
     
     
    Ich höre den Wecker auf dem Fußboden ticken. Zum ersten Mal seit Stunden schließe ich die Augen und frage mich, ob ich vielleicht doch noch werde einschlafen können. Katya bewegt sich, stöhnt leise und dreht sich auf die Seite. Ich überlege, ob ich meine Hand auf ihren Rücken legen und sie ein wenig streicheln soll, lasse es dann aber sein. Der Schlaf ist ein seltener Luxus in diesem Haus, ich möchte nicht riskieren, ihn zu stören. Unsichtbare Sterne, unsichtbarer Himmel, unsichtbare Welt. Ich sehe Sonias Hände auf den Tasten. Sie spielt etwas von Haydn, aber ich kann nichts hören, die Tasten bleiben stumm, dann dreht sie sich auf dem Hocker herum, und Miriam läuft in ihre Arme, eine drei Jahre alte Miriam, ein Bild aus einer fernen Vergangenheit, vielleicht real, vielleicht eingebildet, ich kenne kaum noch den Unterschied. Das Reale und die Einbildungen sind eins. Gedanken sind real, selbst Gedanken an nicht reale Dinge. Unsichtbare Sterne, unsichtbarer Himmel. Das Geräusch meines Atems, das Geräusch von Katyas Atem. Abendgebete, Kindheitsrituale, ihr feierlicher Ernst. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Wie schnell das alles geht. Gestern ein Kind, heute ein alter Mann, und von damals bis heute – wie viele Herzschläge, wie viele Atemzüge, wie viele Worte, die man gesprochen oder gehört hat? Ich möchte, dass jemand mich berührt. Seine Hand auf meine Wange legt und mit mir redet …
     
     
     
    Ich kann mir nicht sicher sein, meine aber, ich  bin für eine Weile eingenickt. Höchstens ein paar Minuten, vielleicht nur Sekunden, dann hat mich plötzlich etwas aufgeschreckt, irgendein Geräusch wahrscheinlich, ja, genau genommen mehrere, ein Klopfen an der Tür, ein schwaches, aber beharrliches Klopfen, und dann mache ich die Augen auf und sage Miriam, sie könne hereinkommen. Als die Tür aufgeht, kann ich ihr Gesicht mit einer gewissen Deutlichkeit erkennen und begreife, dass die Nacht vorbei ist, dass der Morgen zu dämmern begonnen hat. Die Welt in meinem Zimmer ist jetzt grau. Miriam ist schon angezogen (Jeans und ein loser weißer Pullover), und als sie die Tür hinter sich zumacht, lässt der Sperling draußen das erste Zwitschern des Tages hören.
    Gott sei Dank, flüstert sie und betrachtet die schlafende Katya. Ich habe eben bei ihr reingesehen, und als sie nicht in ihrem Bett lag, bin ich ein wenig unruhig geworden.
    Sie ist vor ein paar Stunden zu mir gekommen, flüstere ich. Wieder eine schlimme Nacht, also haben wir im Dunkel gelegen und geredet.
    Miriam tritt zu mir ans Bett, gibt mir einen Kuss auf die Wange und setzt sich neben mich. Hast du Hunger?, fragt sie.
    Ein bisschen.
    Soll ich uns Kaffee machen?
    Nein, bleib ein wenig hier sitzen und sprich mit mir. Es gibt da etwas, was ich wissen muss.
    Worüber?
    Katya und Titus. Sie hat mir erzählt, sie habe mit ihm Schluss gemacht, bevor er weggegangen ist. Stimmt das? Sie scheint zu glauben, er sei ihretwegen fort.
    Du hattest damals so viel anderes im Kopf, ich wollte dich nicht damit behelligen. Mommys Krebs … all diese Monate … und dann der Autounfall. Also, ja, sie hatten sich getrennt.
    Wann?
    Lass mich nachdenken … Dein siebzigster Geburtstag war im Februar, Februar zweitausendfünf. Da war Mommy schon krank. Es muss wenige Monate danach passiert sein. Im späten Frühjahr, oder am Anfang des Sommers.
    Aber Titus ist erst im Februar darauf weggegangen, zweitausendsechs.
    Acht oder neun Monate nach ihrer Trennung.
    Dann liegt Katya falsch. Er ist nicht ihretwegen in den Irak gezogen.
    Sie macht sich Vorwürfe. Das ist alles. Sie sucht nach einem Zusammenhang zwischen sich selbst und dem, was ihm zugestoßen ist, aber in Wirklichkeit hatte sie überhaupt nichts damit zu tun. Er hat dir seine Gründe ja erklärt.
    Und er hat Katyas Namen nicht erwähnt. Nicht ein einziges Mal.
    Siehst du?
    Jetzt fühle ich mich ein wenig besser. Und auch ein wenig
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