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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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ein einziges Mal angesehen – vor über neun Monaten.
    Hast du es etwa vergessen können?
    Nein, natürlich nicht. Ich denke ungefähr zwanzigmal am Tag daran.
    Genau das meine ich. Wenn ich es nicht gesehen hätte, wäre alles anders. Leute ziehen in den Krieg, und manchmal kommen sie darin um. Man kriegt ein Telegramm, oder es ruft jemand an und teilt dir mit, dein Sohn oder dein Mann oder dein Exfreund ist tot. Aber du siehst nicht, wie es passiert ist. Du setzt deine eigenen Bilder zusammen, aber du kennst die Tatsachen nicht. Selbst wenn dir jemand, der dabei war, die Geschichte erzählen würde, blieben dir nichts als Worte, und Worte sind unbestimmt und können auf tausenderlei Weise interpretiert werden. Aber wir haben es gesehen. Wir haben gesehen, wie man ihn ermordet hat, und wenn ich dieses Video nicht mit anderen Bildern überspiele, werde ich nie wieder etwas anderes sehen. Ich werde das einfach nicht los.
    Wir werden es niemals loswerden. Das musst du hinnehmen, Katya. Akzeptiere es, und dann versuch, ins Leben zurückzufinden.
    Ich tue mein Bestes.
    Du rührst seit fast einem Jahr keinen Finger. Man kann sich auch anders ablenken, man muss nicht den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen. Arbeiten wäre eine Möglichkeit. Irgendein Projekt, in das du dich verbeißen könntest.
    Zum Beispiel?
    Lach mich nicht aus, aber nachdem ich mir all diese Filme mit dir angesehen habe, bin ich auf die Idee gekommen, dass wir vielleicht selbst einen schreiben sollten.
    Ich kann nicht schreiben. Ich kann mir keine Geschichten ausdenken.
    Was meinst du, was ich heute Nacht getan habe?
    Keine Ahnung. Nachdenken. Erinnerungen wälzen.
    Das tue ich so wenig wie möglich. Ich bin besser dran, wenn ich mir das Nachdenken und Erinnern für den Tag aufspare. Nein, tatsächlich habe ich mir eine Geschichte erzählt. Das tue ich immer, wenn ich nicht schlafen kann. Ich liege im Dunkel und erzähle mir Geschichten. Inzwischen habe ich bestimmt ein ganzes Dutzend beisammen. Wir könnten Filme daraus machen. Gemeinsam Drehbücher schreiben. Statt uns die Bilder anderer Leute anzusehen, könnten wir uns eigene ausdenken.
    Was für Geschichten sind das denn?
    Alles Mögliche. Farcen, Tragödien, Fortsetzungen von Büchern, die mir gefallen haben, historische Dramen was immer man sich vorstellen kann. Aber falls du mein Angebot anzunehmen gedenkst, finde ich, wir sollten mit einer Komödie anfangen.
    Nach Lachen ist mir zurzeit kaum zumute.
    Eben. Genau deshalb sollten wir etwas Leichtes machen – etwas Seichtes, so frivol und kurzweilig wie möglich. Wenn wir uns richtig hineinknien, könnte es ganz lustig werden.
    Lustig? Wer will das schon?
    Ich. Und du auch, meine Liebe. Wir beide sind ganz schön abgeschlafft, und ich verordne uns eine Kur, ein Mittel, das unsere Trübsal vertreibt.
     
     
     
    Ich stürze mich in eine Geschichte, die ich vorige Woche entworfen habe – die romantischen Abenteuer von Dot und Dash, einer pummeligen Kellnerin und einem ergrauten Schnellkoch, die in einer New Yorker Imbissbude arbeiten –, aber nach nicht einmal fünf Minuten ist Katya eingeschlafen und unsere Unterhaltung zu Ende. Ich lausche ihren ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen und bin froh, dass sie endlich hat abschalten können. Wie viel Uhr mag es sein? Bestimmt nach vier, vielleicht schon fünf. Eine Stunde noch bis zur Dämmerung, jenem unvergleichlichen Augenblick, wenn das Schwarz sich lichtet und der Sperling im Baum neben meinem Fenster das erste Zwitschern des Tages verlauten lässt. Während ich über die verschiedenen Dinge nachdenke, die Katya mir erzählt hat, schweifen meine Gedanken nach und nach ab, wenden sich Titus zu, und bald stecke ich wieder mitten in seiner Geschichte und durchlebe ein weiteres Mal die Katastrophe, der auszuweichen ich mir die ganze Nacht so viel Mühe gegeben habe.
    Katya gibt sich die Schuld an dem, was geschehen ist, macht sich ohne jeden Grund zum Glied in jener Kette von Ursache und Wirkung, die schließlich zu seiner Ermordung geführt hat. So darf man nicht denken, aber wenn ich ihrer fehlerhaften Logik folgte, dann wären auch Sonia und ich mit verantwortlich, denn schließlich haben wir sie überhaupt erst mit Titus bekannt gemacht. Thanksgiving vor fünf Jahren, kurz nach der Scheidung ihrer Eltern. Sie und Miriam waren nach New York gekommen, um das verlängerte Wochenende bei uns zu verbringen, und am Donnerstag bereiteten Sonia und ich Truthahn für zwölf Personen zu. Unter den
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