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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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Gewissen reden könne. Wie hätte ich mich weigern sollen? Ich kannte Titus schon so lange, und es war ja wirklich so, dass auch ich mir Sorgen um ihn machte. Also riss ich mich zusammen und tat mein Bestes – und das war nichts, absolut nichts.
    Nachdem Sonia erkrankt war, hatte ich Titus aus den Augen verloren, und er schien sich in diesen Monaten verändert zu haben. Aus dem gesprächigen, albernen Optimisten war ein streitsüchtiger Griesgram geworden, und mir war von Anfang an klar, dass es mir niemals gelingen würde, ihn von seinem Entschluss abzubringen. Andererseits kam es mir nicht so vor, als sei er unglücklich, mich zu sehen, und während er von Sonia und ihrem Tod sprach, lag echtes Mitgefühl in seiner Stimme. Ich dankte ihm für seine Worte, schenkte uns zwei ordentliche Gläser Scotch ein und führte ihn ins Wohnzimmer, wo wir in der Vergangenheit so oft miteinander geredet hatten.
    Ich habe nicht vor, mit dir zu streiten, begann ich. Es ist nur so, dass ich ein wenig verwirrt bin, und ich möchte, dass du mir einiges erklärst. Okay?
    Okay, sagte Titus. Kein Problem.
    Der Krieg geht demnächst ins vierte Jahr. Zu Beginn der Invasion hast du mir gesagt, du seist dagegen. Entsetzt war das Wort, das du gebraucht hast, glaube ich. Du hast diesen Krieg als Schwindel und Betrug bezeichnet, als den schlimmsten Fehler in der Geschichte Amerikas. Habe ich recht, oder verwechsle ich dich mit jemandem?
    Du hast absolut recht. Genau so habe ich das damals empfunden.
    Wir haben uns in letzter Zeit nicht oft gesehen, aber bei deinem letzten Besuch sagtest du, man sollte Bush ins Gefängnis werfen – zusammen mit Cheney, Rumsfeld und der ganzen Bande faschistischer Verbrecher, die dieses Land regieren. Wann war das? Vor acht Monaten? Vor zehn Monaten?
    Im Frühjahr. April oder Mai, ich weiß es nicht mehr genau.
    Hat sich deine Einstellung seither geändert?
    Nein.
    Kein bisschen?
    Kein bisschen.
    Aber was um Himmels willen zieht dich dann in den Irak? Warum an einem Krieg teilnehmen, den du verabscheust?
    Ich tue das nicht für Amerika. Ich tue das nur für mich.
    Es geht dir ums Geld. Richtig? Titus Small, freischaffender Söldner.
    Ich bin kein Söldner. Söldner tragen Waffen und töten Menschen. Ich werde einen Lastwagen fahren, sonst nichts. Sachen von einem Ort zum andern transportieren. Laken und Handtücher, Seife, Schokoriegel, schmutzige Wäsche. Ein beschissener Job, aber unglaublich gut bezahlt. BRK – so heißt die Firma. Man verpflichtet sich für ein Jahr und kehrt mit neunzig- oder hunderttausend Dollar in der Tasche nach Hause zurück.
    Aber damit unterstützt du eine Sache, die du ablehnst. Wie kannst du das vor dir selbst rechtfertigen?
    So sehe ich das nicht. Für mich ist es keine Frage der Moral. Es geht darum, etwas zu lernen, eine neue Art von Ausbildung anzufangen. Ich weiß, wie schrecklich und gefährlich es da drüben ist, ebendeshalb will ich dorthin. Je schrecklicher, desto besser.
    Ich kann dir nicht folgen.
    Mein ganzes Leben lang wollte ich Schriftsteller werden. Das weißt du, August. Jahrelang habe ich dir meine jämmerlichen kleinen Geschichten gezeigt, und du warst so freundlich, sie zu lesen und mir zu sagen, was du davon hältst. Du hast mich ermutigt, und dafür bin ich dir sehr dankbar, aber wir wissen beide, dass ich nicht gut bin.
    Mein Geschreibsel ist trocken, plump und fade. Mist. Bis jetzt habe ich nur Mist fabriziert. Das College liegt seit über einem Jahr hinter mir, und ich verbringe meine Tage damit, in einem Büro zu sitzen und Anrufe für einen Literaturagenten entgegenzunehmen. Was ist das für ein Leben? So verflucht ungefährlich, so verflucht langweilig, ich halte das nicht mehr aus. Ich weiß nichts, August. Ich habe noch nichts geleistet. Deswegen will ich fort. Um etwas zu erfahren, bei dem es nicht um mich geht. Um in die große kaputte Welt hinauszuziehen und zu entdecken, wie es sich anfühlt, ein Teil ihrer Geschichte zu sein.
    Dass du in den Krieg ziehst, wird dich nicht zum Schriftsteller machen. Du denkst wie ein Schuljunge, Titus. Bestenfalls kommst du mit einem Kopf voll unerträglicher Erinnerungen zurück. Und im schlimmsten Fall kommst du gar nicht wieder.
    Ich weiß, dass ein gewisses Risiko besteht. Aber das muss ich eingehen. Ich muss mein Leben ändern – auf der Stelle.
    Zwei Wochen nach diesem Gespräch stieg ich in einen gemieteten Toyota Corolla und brach nach Vermont auf, um ein wenig Zeit mit Miriam zu verbringen. Die Fahrt
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