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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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endete mit jenem Unfall, der mich ins Krankenhaus brachte, und als ich entlassen wurde, war Titus bereits in den Irak abgereist. Ich hatte keine Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden, ihm Glück zu wünschen oder ihn zu bitten, seinen Entschluss noch ein letztes Mal zu überdenken. Dieses romantische Gewäsch … dieses kindische Gefasel … aber der Junge war verzweifelt: Seine ehrgeizigen Pläne waren zunichte, er musste sich der Tatsache stellen, dass er für das eine, das er immer hatte tun wollen, nicht gut genug war, und um sich in seinen eigenen Augen reinzuwaschen, lief er Hals über Kopf davon.
    Anfang April zog ich bei Miriam ein. Drei Monate später rief Katya aus New York an und schluchzte ins Telefon. Mach den Fernseher an, sagte sie, und da war Titus in den Abendnachrichten: Er saß auf einem Stuhl in einem unbestimmbaren Raum mit Betonwänden, um ihn herum standen vier Männer mit Kapuzen überm Kopf und Gewehren in den Händen. Die Qualität des Videos war schlecht und der Ausdruck auf Titus’ Gesicht schwer zu deuten. Ich fand, er sah eher verblüfft als verängstigt aus, aber offensichtlich hatte man ihn geschlagen, denn ich erkannte, wenn auch undeutlich, eine große Schramme an seiner Stirn. Ton gab es keinen zu den Bildern, nur den vorbereiteten Text des Nachrichtensprechers, der sinngemäß lautete: Der vierundzwanzigjährige New Yorker Titus Small, Lkw-Fahrer bei die Baufirma BRK, wurde heute Vormittag auf dem Weg nach Bagdad entführt. Noch ist nicht bekannt, welcher terroristischen Vereinigung die Geiselnehmer angehören. Sie verlangen für seine Freilassung zehn Millionen Dollar sowie das sofortige Ende aller BRK-Aktivitäten im Irak und drohen mit der Exekution ihres Gefangenen, sollten diese Forderungen nicht binnen zweiundsiebzig Stunden erfüllt werden. BRK-Sprecher George Reynolds erklärte, das Unternehmen bemühe sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, Mr. Smalls Sicherheit zu gewährleisten.
    Am nächsten Tag traf Katya im Haus ihrer Mutter ein, und zwei Tage später schalteten wir abends ihren Laptop an und sahen das zweite und letzte Video der Kidnapper, das es nur im Internet gab. Wir wussten bereits, dass Titus tot war. BRK hatte einen enormen Betrag für ihn geboten, es jedoch wie erwartet (warum das Undenkbare denken, wenn der Profit auf dem Spiel steht?) abgelehnt, sich aus dem Geschäft im Irak zurückzuziehen. Die Bluttat wurde wie angekündigt ausgeführt, exakt zweiundsiebzig Stunden nachdem Titus aus seinem Lastwagen gezerrt und in jenen Raum mit den Betonwänden geworfen worden war. Ich begreife noch immer nicht, was uns drei getrieben hat, uns das anzusehen – als sei dies unsere heilige Pflicht und Schuldigkeit. Wir alle wussten, die Bilder würden uns bis ans Ende unseres Lebens verfolgen, und doch hatten wir irgendwie das Gefühl, wir müssten ihm beistehen, dürften ihm zuliebe nicht die Augen von diesem Horror abwenden, wir müssten Titus in uns aufnehmen und bewahren ihn in uns einschließen, diesen einsamen, elenden Tod, in uns einschließen diese Grausamkeit, die ihm in den letzten Augenblicken widerfahren war, in uns und in niemandem sonst, um ihn nicht allein zu lassen in der erbarmungslosen Finsternis, die ihn nun verschlang.
     
    Zum Glück gab es keinen Ton.
    Zum Glück hatte man ihm eine Kapuze über den Kopf gezogen.
    Er sitzt, die Hände auf den Rücken gefesselt, auf einem Stuhl, reglos, ohne einen Versuch der Gegenwehr. Die vier Männer aus dem vorigen Video stehen um ihn herum, drei mit Gewehren, der vierte mit einem Beil in der Rechten. Ohne irgendein Signal oder Zeichen seitens der anderen hebt der Vierte plötzlich die Schneide und schlägt sie in Titus’ Hals. Titus zuckt nach rechts, sein Oberkörper windet sich, und dann sickert Blut aus der Kapuze. Ein weiterer Hieb, diesmal in den Nacken. Titus’ Kopf baumelt nach vorn, und nun ergießen sich Ströme von Blut über seinen Körper. Mehr Hiebe: von vorn und hinten, von rechts und links. Die stumpfe Klinge hackt weiter, weit über den Augenblick des Todes hinaus.
    Einer der Männer legt sein Gewehr ab und packt Titus’ Kopf fest mit beiden Händen, um ihn senkrecht zu halten, während der Mann mit dem Beil weiter seiner Arbeit nachgeht. Beide sind mit Blut bedeckt.
    Als der Kopf endlich vom Körper getrennt ist, lässt der Henker das Beil zu Boden fallen. Der andere zieht die Kapuze von Titus’ Kopf, und dann greift ein Dritter in Titus’ rotes Haar und trägt den Kopf
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