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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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der Stadt zu sein. Die Familie des Mädchens tritt an ihn heran. Sie erklären ihm, er sei der einzige verfügbare Junggeselle, der einzige, der das Problem für sie lösen könne. Apu ist entsetzt. Er hält diese Leute für verrückt, für abergläubische Landeier, und schlägt ihre Bitte rundheraus ab. Dann aber, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hat, beschließt er, es doch zu tun. Als gute Tat, als altruistische Geste; freilich hat er nicht die Absicht, das Mädchen nach Kalkutta mitzunehmen. Als sie nach der Hochzeitszeremonie endlich zum ersten Mal miteinander allein sind, begreift Apu, dass diese sanfte junge Frau viel stärker ist, als er angenommen hatte. Ich bin arm, sagt er, ich möchte Schriftsteller werden, ich habe dir nichts zu bieten. Ich weiß, sagt sie, aber das macht nichts. Sie habe sich entschieden, mit ihm zu gehen. Entnervt und verwirrt, aber auch gerührt von ihrer Entschlossenheit, gibt Apu widerstrebend nach. Schnitt. Zurück in der Stadt. Eine Kutsche hält vor dem baufälligen Gebäude, in dem Apu lebt; er und seine Braut steigen aus. Die Nachbarn kommen angelaufen und begaffen die schöne junge Frau, als Apu sie die Treppe hinauf in seine verwahrloste kleine Dachkammer führt. Kurz darauf wird er von jemandem gerufen und verschwindet. Die Kamera bleibt auf das Mädchen gerichtet, sie ist allein in diesem fremden Zimmer, dieser fremden Stadt, verheiratet mit einem Mann, den sie kaum kennt. Schließlich tritt sie ans Fenster, vor dem anstelle eines Vorhangs ein schmuddeliges Stück Sackleinwand hängt. Es klafft ein Loch darin, und sie schaut durch dieses Loch hindurch in den Hinterhof, wo ein kleines Kind in Windeln durch Staub und Trümmer tapst. Die Kameraeinstellung kehrt sich um, und wir sehen ihr Auge durch das Loch. Tränen rinnen aus diesem Auge, und wer kann es ihr verdenken, dass sie erschöpft ist, verängstigt und sich verloren fühlt? Apu kehrt zurück und fragt, was mit ihr los sei. Nichts, sagt sie und schüttelt den Kopf, gar nichts. Die Szene wird ausgeblendet, und die große Frage lautet: Was nun? Was steht diesen beiden bevor, die der pure Zufall miteinander verbunden hat? Ein paar kräftige, entschiedene Striche und in kaum einer Minute ist alles erzählt. Gegenstand Nummer eins: das Fenster. Aufblende. Es ist früh am Morgen, und als Erstes sehen wir das Fenster, durch das die Frau in der vorangegangenen Szene hinausgeblickt hat. Anstelle der schmutzigen Leinwand hängt dort jetzt ein sauberer karierter Vorhang. Die Kamera zieht ein wenig auf, und hier kommt Gegenstand Nummer zwei: Topfblumen auf dem Fensterbrett. Das sind ermutigende Zeichen, aber noch können wir uns ihrer Bedeutung nicht sicher sein. Häuslichkeit, Heimeligkeit, etwas Weibliches – dergleichen kann man schließlich von einer Ehefrau erwarten; dass Apus Frau ihre Pflichten erfüllt, heißt aber noch lange nicht, dass sie sich ernstlich etwas aus ihm macht. Die Kamera zieht weiter auf, und wir sehen die beiden schlafend. Der Wecker klingelt, und die Frau setzt sich auf, während Apu den Kopf stöhnend im Kissen vergräbt. Gegenstand Nummer drei: ihr Sari. Als sie aus dem Bett gestiegen ist und sich entfernen will, hält sie plötzlich inne, sie kommt nicht mehr voran – weil ihre Kleider mit denen von Apu verknotet sind. Sehr seltsam. Wer könnte das getan haben – und warum? Ihre Miene drückt Verärgerung, aber auch Belustigung aus, und wir wissen sofort: Nur Apu kann dafür verantwortlich sein. Sie geht zum Bett zurück, gibt ihm einen zärtlichen Klaps auf den Hintern und löst den Knoten. Was zeigt uns diese kleine Szene? Dass sie guten Sex haben, dass sich etwas Spielerisches zwischen ihnen entwickelt hat, dass sie wahrhaft ein Paar geworden sind. Bloß wie sieht es mit der Liebe aus? Sie machen einen zufriedenen Eindruck, das schon, aber wie stark sind ihre Gefühle wirklich? Hier kommt Gegenstand Nummer vier ins Spiel: die Haarnadel. Die Frau verlässt den Bildausschnitt, um das Frühstück zu bereiten, und die Kamera nähert sich Apu. Endlich gelingt es ihm, die Augen aufzumachen, und als er sich gähnend streckt und im Bett herumwälzt, erblickt er im Spalt zwischen ihren Kopfkissen einen Gegenstand. Er greift hinein und zieht eine Haarnadel heraus. Diese Szene ist die Krönung. Er hält die Nadel hoch, betrachtet sie eingehend, und wenn man sich seine Augen ansieht, die Zärtlichkeit und Bewunderung in Apus Augen, erkennt man deutlich, dass er wahnsinnig verliebt und sie die Frau
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