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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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sie könnten ihre Bettwäsche versetzen, um das Fahrrad auszulösen. Erinnere dich, wie heftig sie in der Küche gegen den Eimer tritt, erinnere dich, wie ungeduldig sie an der Schublade rüttelt. Leblose Gegenstände, menschliche Gefühle. Dann befinden wir uns in der Pfandleihe, einem riesigen Lagerhaus für Dinge, die keiner mehr haben will. Die Frau gibt ihre Bettwäsche ab; wir sehen einen der Angestellten mit dem kleinen Bündel zu den Regalen gehen, worin die versetzten Sachen verwahrt werden. Zunächst wirken die Regale nicht besonders raumgreifend, aber als die Kamera aufzieht und mit dem Mann nach oben klettert, sehen wir sie immer weiter und weiter bis unter die Decke reichen, und jedes einzelne Fach ist bis zum letzten Eckchen vollgestopft mit Bündeln wie dem, das der Mann jetzt einlagert, und plötzlich hat man den Eindruck, alle Familien Roms hätten ihre Bettwäsche versetzt und die gesamte Stadt befinde sich in derselben Notlage wie der Held des Films und seine Frau. Eine einzige Einstellung, Grandpa. Eine einzige Einstellung zeigt uns eine ganze Gesellschaft am Rand der Katastrophe.
    Nicht schlecht, Katya. Wie klug du bist.
    Das ist mir heute Abend eingefallen. Aber ich glaube, ich habe da etwas wirklich Wesentliches entdeckt, denn Beispiele dafür habe ich in allen drei Filmen gefunden. Erinnerst du dich an das Geschirr in Die große Illusion?
    Das Geschirr?
    Kurz vor dem Ende. Gabin sagt der deutschen Frau, dass er sie liebe, dass er sie und ihre Tochter nach Kriegsende abholen werde, aber die Armee rückt bereits näher, und er und Dalio müssen versuchen, über die Schweizer Grenze zu gelangen, bevor es zu spät ist. Die vier nehmen eine letzte gemeinsame Mahlzeit ein, und dann kommt der Augenblick des Abschiednehmens. Das alles ist natürlich sehr bewegend. Gabin und die Frau auf der Türschwelle, die Möglichkeit, dass sie einander nie Wiedersehen, die Tränen der Frau, als die beiden Männer in die Nacht verschwinden. Nun schneidet Renoir auf Gabin und Dalio, die durch den Wald laufen, und ich wette, jeder andere Regisseur auf der Welt wäre bis zum Ende des Films bei ihnen geblieben. Aber nicht Renoir. Er besitzt das Genie – und wenn ich Genie sage, meine ich das Verständnis, die Einfühlungsgabe, das Mitgefühl –, zu der Frau und ihrer kleinen Tochter zurückzugehen, zu dieser jungen Witwe, die schon ihren Mann an den Wahnsinn des Kriegs verloren hat. Und was lässt er sie jetzt tun? Sie muss ins Haus zurück, zum Esszimmertisch und dem schmutzigen Geschirr, das von der letzten Mahlzeit übrig geblieben ist. Die Männer sind fort, und nun, da sie fort sind, ist dieses Geschirr zum Zeichen ihrer Abwesenheit geworden, zum Sinnbild des einsamen Leidens von Frauen, deren Männer in den Krieg ziehen. Stück für Stück und ohne ein Wort zu sagen nimmt sie die Schüsseln und Teller und räumt den Tisch ab. Wie lange dauert diese Szene? Zehn Sekunden? Fünfzehn Sekunden? Jedenfalls nicht sehr lange, aber sie verschlägt einem den Atem, oder? Sie macht einen fix und fertig.
    Du bist ein tapferes Mädchen, sagte ich, weil ich plötzlich an Titus denken musste.
    Lass das, Grandpa. Ich will nicht darüber reden. Vielleicht ein andermal, aber jetzt nicht. Okay?
    Okay. Bleiben wir beim Film. Einen haben wir noch. Den indischen. Ich glaube, der hat mir am besten gefallen.
    Das liegt daran, dass er von einem Schriftsteller handelt, sagte Katya und ließ ein ironisches Lächeln aufblitzen.
    Mag sein. Aber das heißt nicht, dass er nicht gut wäre.
    Ich hätte ihn nicht ausgesucht, wenn er nicht gut wäre. Kein Schrott. So lautet die Regel, weißt du noch? Alle Arten von Filmen, vom Schrulligen bis zum Erhabenen, aber keinen Schrott.
    Einverstanden. Aber wo haben wir in Apu den leblosen Gegenstand?
    Überleg mal.
    Ich will nicht überlegen. Es ist deine Theorie, also sag du es mir.
    Der Vorhang und die Haarnadel. Ein Übergang vom einen Leben ins andere, der Wendepunkt der Geschichte. Apu fährt aufs Land, zur Hochzeit einer Cousine seines Freundes. Es handelt sich um eine traditionelle, arrangierte Ehe, und als der Bräutigam auftritt, erweist er sich als schwachsinnig, als vollkommener Idiot. Die Hochzeit wird abgesagt, und die Eltern der Cousine geraten in Panik, denn sie fürchten, ihre Tochter bliebe, wenn sie nicht noch an diesem Nachmittag heirate, für den Rest ihres Lebens verflucht. Apu liegt unter einem Baum und schläft, ihn drücken keine Sorgen, er freut sich, ein paar Tage lang nicht in
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