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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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seines Lebens ist. Das alles zeigt uns Ray, ohne dass ein einziges Wort gesprochen würde.
    Genau wie bei dem Geschirr, sagte ich. Genau wie bei dem Bündel Bettwäsche. Ohne Worte.
    Es braucht keine Worte, antwortete Katya. Wenn man weiß, was man tut.
    An diesen drei Szenen ist noch etwas. Als wir die Filme eben sahen, fiel es mir nicht gleich auf, aber wenn ich dich jetzt davon sprechen höre, springt es mich förmlich an.
    Was denn?
    Sie alle handeln von Frauen. Davon, dass sie es sind, die die Welt auf ihren Schultern tragen. Frauen nehmen sich der wirklich wichtigen Dinge an, während ihre Männer kläglich umherstolpern und alles vermasseln. Oder einfach nur herumliegen und gar nichts tun. Denn so geht die Szene mit der Haarnadel weiter. Apu blickt durchs Zimmer auf seine Frau, die über einen Topf gebeugt mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt ist, und er rührt keinen Finger, um ihr zu helfen. Ganz ähnlich der Italiener – er erkennt einfach nicht, wie sehr es seine Frau anstrengt, diese Wassereimer zu schleppen.
    Endlich, sagte Katya und stupste mich in die Rippen. Endlich ein Mann, der das kapiert.
    Wollen mal nicht übertreiben. Ich füge deiner Theorie nur eine Fußnote hinzu. Deiner äußerst klugen Theorie, möchte ich betonen.
    Und was für ein Ehemann warst du, Grandpa?
    Genau so unaufmerksam und träge wie die Kerle in diesen Filmen. Deine Großmutter hat alles allein machen müssen.
    Das ist nicht wahr.
    Doch. Aber wenn du zu Besuch kamst, habe ich mich ganz schön zusammengerissen. Du hättest uns sehen sollen, wenn wir allein miteinander waren.
     
     
     
    Ich unterbreche kurz, um meine Liegeposition zu verändern, das Kopfkissen zurechtzudrücken und einen Schluck Wasser aus dem Glas auf meinem Nachttisch zu trinken. Ich will nicht an Sonia denken. Dazu ist es noch zu früh, und wenn ich jetzt nachgebe, wird sie mir stundenlang nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich muss mich an die Geschichte halten. Das ist die einzige Lösung. Die Geschichte weiterspinnen und sehen, was passiert, wenn ich ans Ende komme.
    Owen Brick. Owen Brick unterwegs in die Stadt Wellington – in welchem Bundesstaat, weiß er nicht, auch nicht, in welchem Teil des Landes, aber das feuchte, kalte Klima lässt ihn darauf schließen, dass er sich irgendwo im Norden befinden müsse, vielleicht in New England, vielleicht im Staat New York, vielleicht im oberen Mittelwesten. Und als er an Sarge Serges Gerede vom Bürgerkrieg denkt, fragt er sich, worum es bei diesem Krieg wohl gehe und wer überhaupt gegen wen zu Felde ziehe. Steht wieder der Norden gegen den Süden? Der Osten gegen den Westen? Rot gegen Blau? Weiß gegen Schwarz? Was auch immer den Krieg ausgelöst hat, welche Streitfragen oder Ideen es auch sein mögen, für ihn ergibt das alles keinen Sinn. Wie kann das hier Amerika sein, wenn Tobak nichts vom Irak wissen will? Vollkommen ratlos zieht sich Brick auf seine frühere Annahme zurück, dass er in einem Traum feststecke und ungeachtet aller greifbaren Indizien in Wirklichkeit zu Hause in seinem Bett neben Flora liegen müsse.
    Die Sicht ist schlecht, aber immerhin nimmt er durch den Nebel undeutlich wahr, dass er links und rechts von Wald umgeben ist; keine Spur von Häusern oder anderen Gebäuden, keine Telefonmasten, keine Verkehrsschilder, keine Spur menschlichen Lebens außer der Straße selbst, einem schlecht befestigten Streifen aus Teer und Asphalt mit zahllosen Rissen und Schlaglöchern, die zweifellos seit Jahren nicht mehr ausgebessert worden sind. Er bringt eine Meile hinter sich, dann noch eine, und noch immer begegnet ihm kein Auto, kein Mensch lässt sich in der leeren Weite blicken. Weitere zwanzig Minuten später hört er schließlich etwas herankommen, ein klapperndes Zischen, das er sich nicht erklären kann. Da rollt aus dem Nebel ein Mann auf einem Fahrrad auf ihn zu. Brick hebt die Hand, will ihn auf sich aufmerksam machen, ruft Hallo, Bitte, Sir, aber der Radler beachtet ihn nicht und saust vorbei. Nach und nach bevölkert sich die Straße mit Radfahrern, manche fahren in die eine Richtung, manche in die andere, aber keiner von ihnen lässt sich durch Bricks Bitten zum Anhalten bewegen; er könnte ebenso gut unsichtbar sein.
    Fünf oder sechs Meilen weiter tauchen andere Anzeichen von Leben auf – oder eher Anzeichen von untergegangenem Leben: ausgebrannte Häuser, eingestürzte Supermarkthallen, ein toter Hund, mehrere verkohlte Autowracks. Unvermittelt sieht er sich einer alten
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