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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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die geringste Neigung, die guten Stücke zu sammeln – wenn es denn überhaupt welche gab –, und sie noch einmal in Büchern abdrucken zu lassen, die kein normaler Mensch je lesen würde. Mag mein halbfertiges Manuskript fürs Erste vor sich hinmodern. Miriam hingegen ist fleißig, sie hat ihre Biographie von Rose Hawthorne fast fertig, hartnäckig arbeitet sie an allen freien Abenden, an den Wochenenden, wann immer sie nicht nach Hampton fahren und ihre Vorlesungen halten muss, und bis auf weiteres scheint mir ein Schriftsteller im Haus vollkommen auszureichen.
    Wo war ich? Owen Brick … Owen Brick auf dem Weg in die Stadt. Die kalte Luft, die Verwirrung, ein zweiter Bürgerkrieg in Amerika. Ein Prolog. Doch bevor ich mir überlege, wie es mit meinem verstörten Zauberer weitergehen wird, brauche ich ein wenig Zeit, um über Katya und die Filme nachzudenken. Ich bin mir noch immer nicht im Klaren, was ich davon halten soll. Als Katya anfing, eine DVD nach der anderen übers Internet zu bestellen, hielt ich das für ein gutes Zeichen, einen kleinen Schritt in die richtige Richtung. Immerhin zeigte es mir, dass sie bereit war, sich ablenken zu lassen, sich mit etwas anderem als ihrem toten Titus zu beschäftigen. Schließlich studiert sie an der Filmakademie und will einmal Cutterin werden, und als die Dinger bei uns einzutrudeln begannen, fragte ich mich, ob sie das Studium nun doch wiederaufnehmen oder sich wenigstens auf eigene Faust fortbilden wolle. Nach einer Weile jedoch erschien mir ihr zwanghafter Filmkonsum wie eine Form von Selbstmedikation, als homöopathisches Betäubungsmittel, das jegliche Gedanken an ihre Zukunft ausschalten sollte. Sich in einen Film zu flüchten ist etwas anderes, als sich in ein Buch zu flüchten. Bücher zwingen einen, ihnen etwas zurückzugeben, den Verstand und die Phantasie zu gebrauchen, wohingegen man einen Film im Zustand geistiger Passivität sehen und auch genießen kann. Damit will ich nicht behaupten, Katya sei innerlich versteinert. Sie lächelt, und manchmal, an besonders komischen Stellen, lässt sie sogar ein kleines Lachen hören, und bei anrührenden Szenen treten ihre Tränendrüsen nicht selten in Aktion. Ich denke, es hat eher mit ihrer Haltung zu tun, mit der Art, wie sie ins Sofa sinkt, die Füße auf dem Couchtisch ausstreckt und dann stundenlang reglos verharrt, nicht ans Telefon geht und überhaupt nur Anzeichen von Leben erkennen lässt, wenn ich sie berühre oder in die Arme nehme. Wahrscheinlich liegt es an mir. Ich habe sie dazu ermuntert, dieses abgeflachte Dasein zu fristen, und vielleicht sollte ich dem ein Ende machen – obwohl ich bezweifle, dass sie auf mich hören würde.
    Allerdings sind manche Tage besser als andere. Wenn wir einen Film gesehen haben, reden wir hinterher immer eine Weile darüber, bevor Katya den nächsten einlegt. Während ich meistens über die Handlung und die Qualität der Schauspieler diskutieren möchte, konzentrieren sich ihre Bemerkungen auf die technischen Aspekte: die Kameraeinstellungen, den Schnitt, die Beleuchtung, den Ton und so weiter. Heute Abend jedoch, nachdem wir drei ausländische Filme hintereinander gesehen hatten – Die große Illusion, Fahrraddiebe und Apus Welt –, skizzierte Katya mit einigen geistreichen und prägnanten Anmerkungen eine Theorie des Filmemachens, deren Scharfsinn mich verblüffte.
    Leblose Gegenstände, sagte sie.
    Was ist damit?, fragte ich.
    Leblose Gegenstände als Mittel zum Ausdruck menschlicher Gefühle. Das ist die Sprache des Films. Nur gute Regisseure wissen damit umzugehen, aber Renoir, De Sica und Ray sind drei der besten. Hab ich recht?
    Zweifellos.
    Denk an die Anfangssequenz von Fahrraddiebe. Der Held bekommt einen Job angeboten, aber um die Arbeit antreten zu können, muss er sein Fahrrad beim Pfandleiher auslösen. Er geht nach Hause und beklagt sein Schicksal. Vor dem Haus trifft er auf seine Frau; sie schleppt zwei schwere Wassereimer. Die ganze Armut der beiden, die ganze Mühsal dieser Frau und ihrer Familie steckt in diesen Eimern. Der Mann ist so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt, dass er erst auf die Idee kommt, ihr zu helfen, als sie schon fast im Hauseingang verschwunden ist. Und auch dann nimmt er ihr nur einen der beiden Eimer ab und lässt sie den anderen weitertragen. In diesen wenigen Sekunden erfahren wir alles, was wir über die Ehe der beiden wissen müssen. Dann steigen sie die Treppe zu ihrer Wohnung hoch, und die Frau schlägt vor,
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