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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel
Autoren: Paul Auster
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dem Boden aus und schläft tatsächlich ein.
    Früh am nächsten Morgen weckt ihn eine Stimme, die vom oberen Rand des Lochs zu ihm hinunterdringt. Brick sieht auf und erblickt dort über der Kante das Gesicht eines Mannes, und da er nur dieses Gesicht sehen kann, nimmt er an, der Mann liege flach auf dem Bauch.
    Corporal, sagt der Mann. Corporal Brick, es ist Zeit. Wir müssen weiter.
    Brick steht auf, und jetzt, da seine Augen nur noch einen guten Meter von dem Fremden entfernt sind, erkennt er das Gesicht deutlicher: Es gehört einem dunkelhäutigen Mann mit kantigem Kinn und stoppeligem Zweitagebart, und die Kappe auf seinem Kopf ist genau so eine, wie er selbst sie trägt. Ehe Brick beteuern kann, dass er gern mit ihm weiterziehen wolle, sich aber gegenwärtig kaum dazu imstande sehe, verschwindet das Gesicht des Mannes.
    Keine Sorge, hört er ihn sagen. Wir holen Sie da im Handumdrehen raus.
    Kurz darauf ertönen die Schläge eines Hammers oder Eisenschlegels auf Metall, und da die Laute mit jedem Hieb ein wenig dumpfer klingen, fragt sich Brick, ob der Mann etwa einen Pflock in den Boden treibe. Und falls es ein Pflock sei, ob dann als Nächstes ein Seil daran befestigt werde, an dem Brick aus dem Loch hinausklettern könnte. Das Hämmern bricht ab, wieder vergehen dreißig oder vierzig Sekunden, dann fällt, genau wie er es sich gedacht hat, ein Seil vor seine Füße.
    Brick ist Zauberer, kein Bodybuilder, und auch wenn es für einen gesunden Mann von dreißig Jahren keine allzu große Herausforderung darstellen sollte, einen einzigen Meter an einem Seil hochzuklettern, schafft er es doch nur mit sehr viel Mühe bis nach oben. Die Wand ist ihm keine Hilfe, da die Sohlen seiner Schuhe immer wieder an der glatten Oberfläche abrutschen, und auch als er versucht, das Seil mit den Stiefeln zu umklammern, findet er keinen Halt, sodass er sich ganz auf die Kraft seiner Arme verlassen muss, und da er weder muskulös noch kräftig ist und das grobgefaserte Seil ihm die Handflächen aufscheuert, entwickelt sich die simple Aufgabe zu einem zähen Ringen. Als er sich schließlich dem Rand nähert und der andere Mann seine rechte Hand packt und ihn zu sich auf den Erdboden zieht, ist Brick nicht nur außer Atem, sondern auch wütend auf sich selbst. Nach dieser kläglichen Vorstellung rechnet er damit, für seine Ungeschicklichkeit verspottet zu werden, doch wundersamerweise enthält der Mann sich jeglicher abfälliger Bemerkungen.
    Als Brick sich langsam hochrappelt, bemerkt er, sein Retter trägt die gleiche Uniform wie er selbst, nur mit dem einen Unterschied, dass da drei Streifen auf den Ärmeln seiner Jacke sind und nicht zwei. Dichter Nebel hängt in der Luft, so kann er kaum erkennen, wo er sich befindet. Ein einsamer Fleck auf dem Lande, wie er vermutet hat, von der Stadt, die vorige Nacht unter Beschuss lag, ist nirgendwo etwas zu sehen. Die einzigen Dinge, die er mit Sicherheit ausmachen kann, sind der Pflock mit dem daran befestigten Seil und ein schlammbespritzter Jeep, der etwa drei Meter vom Rand des Lochs geparkt ist.
    Corporal, sagt der Mann und schüttelt Brick mit festem, begeistertem Griff die Hand. Ich bin Serge Tobak, Ihr Sergeant. Besser bekannt als Sarge Serge.
    Brick sieht auf den Mann hinab, der gut fünfzehn Zentimeter kleiner ist als er selbst, und wiederholt mit leiser Stimme den Namen: Sarge Serge.
    Ich weiß, sagt Tobak. Sehr komisch. Aber der Name ist an mir hängengeblieben, und jetzt kann ich nichts mehr dagegen machen. Hätte schlimmer kommen können.
    Was mache ich hier?, fragt Brick und versucht die Angst in seiner Stimme zu unterdrücken.
    Reiß dich zusammen, Junge. Wir haben Krieg. Was dachtest du denn, was das hier sein soll? Ein Ausflug in den Vergnügungspark?
    Was für ein Krieg? Heißt das, wir sind im Irak?
    Irak? Wen kümmert der Irak?
    Amerika führt Krieg im Irak. Das weiß doch jeder.
    Scheiß auf den Irak. Das hier ist Amerika, und Amerika kämpft gegen Amerika.
    Wovon reden Sie?
    Bürgerkrieg, Brick. Weißt du denn gar nichts? Er geht schon ins vierte Jahr. Aber jetzt, wo du aufgetaucht bist, wird es bald vorbei sein. Du bist der Mann, der das Ende bringt.
    Woher kennen Sie meinen Namen?
    Du bist in meinem Zug, Blödmann.
    Und was ist mit diesem Loch? Wieso war ich da unten?
    Das übliche Verfahren. Alle neuen Rekruten kommen so zu uns.
    Aber ich habe mich nie gemeldet. Niemals.  Natürlich nicht. Niemand tut das. Aber so ist es nun einmal. Eben noch lebst du dein
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