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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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E twas ist passiert. Man merkt es immer sofort. Man kommt zu sich und erblickt den Schaden: eine zerdepperte Lampe, ein entsetztes Gesicht, das man kaum wiedererkennt. Hin und wieder eine Person in Weiß: ein Notarzt, eine Krankenschwester. Eine Hand, die einem eine Tablette reicht. Oder eine Spritze aufzieht.
    Diesmal sitze ich in einem Zimmer auf einem kalten, metallenen Klappstuhl. Das Zimmer ist mir nicht vertraut, aber so etwas bin ich gewöhnt. Ich suche nach Anhaltspunkten. Scheint ein Büroraum zu sein, lang und vollgestopft mit Schreibtischen und Computern, überall Papierstapel. Keine Fenster.
    Vor lauter Postern, Zeitungsausschnitten und Bekanntmachungen, die an die Wände gepinnt sind, ist von der blassgrünen Wandfarbe fast nichts zu erkennen. Alles ist in fahles Neonlicht getaucht. Männer und Frauen, die sich unterhalten. Untereinander. Nicht mit mir. Einige tragen weite Anzüge, andere Jeans. Ein paar sind ganz in Weiß. Ich vermute, dass ein Lächeln unangebracht wäre. Angst zu haben vielleicht nicht.
    I ch kann immer noch lesen, so schlimm steht es nicht um mich. Noch nicht. Keine Bücher, aber Zeitungsartikel. Artikel in Zeitschriften, wenn sie nicht zu lang sind. Ich habe ein System. Ich nehme mir ein Blatt liniertes Papier und mache mir Notizen. Wie früher im Medizinstudium.
    Wenn ich durcheinanderkomme, nehme ich meine Notizen zu Hilfe. Manchmal brauche ich zwei Stunden, um einen einzigen Artikel in der Tribune zu lesen, einen halben Tag für die New York Times. Von dem Tisch, an dem ich gerade sitze, nehme ich eine Zeitung, die jemand liegen gelassen hat, und einen Bleistift. Beim Lesen mache ich mir am Rand Notizen. Das sind nur Notlösungen. Die Gewaltausbrüche gehen weiter. Sie ernten, was sie gesät haben.
    Wenn ich mir diese Notizen später ansehe, bin ich ratlos, weiß ich nichts mehr damit anzufangen. Ein kräftiger Mann in Blau steht in meiner Nähe. Seine Hand ist nur wenige Zentimeter von meinem Oberarm entfernt. Bereit zuzupacken.
    I ch habe Ihnen gerade Ihre Rechte vorgelesen. Haben Sie deren Bedeutung verstanden? Und wenn ja, wollen Sie in Kenntnis dieser Rechte mit mir reden?
    Ich will nach Hause. Ich will nach Hause. Bin ich in Philadelphia? Wir wohnten in der Walnut Lane. Da haben wir auf der Straße Brennball gespielt.
    Nein, Sie sind in Chicago. Stadtteil dreiundvierzig, Polizeiwache einundzwanzig. Wir haben Ihren Sohn und Ihre Tochter verständigt. Sie können dieses Gespräch unter Berufung auf Ihre Rechte jederzeit abbrechen.
    Abbrechen. Ja, das möchte ich.
    E in großes Pappschild klebt an der Küchenwand. Die Wörter, mit einem dicken, schwarzen Marker und zittriger Hand geschrieben, sind am Rand ganz eng reingequetscht: Ich heiße Dr. Jennifer White. Ich bin vierundsechzig Jahre alt. Ich leide an Demenz. Mein Sohn Mark ist neunundzwanzig. Meine Tochter Fiona ist vierundzwanzig. Eine Pflegerin namens Magdalena wohnt bei mir.
    Das ist klar und eindeutig. Wer also sind all die anderen Leute in meinem Haus? Fremde überall. Eine blonde Frau, die ich nicht kenne, sitzt in meiner Küche und trinkt Tee. Etwas bewegt sich im Arbeitszimmer. Als ich um die Ecke gehe und das Wohnzimmer betrete, wieder ein anderes Gesicht. Ich frage: Wer sind Sie? Wer sind all die anderen? Kennen Sie die da? Ich zeige in Richtung Küche, und sie lachen.
    Das bin ich, sagen sie. Eben war ich in der Küche, jetzt bin ich hier. Ich bin außer Ihnen die Einzige im Haus. Sie fragen, ob ich Tee möchte. Sie fragen, ob ich einen Spaziergang machen möchte. Bin ich ein Baby?, frage ich. Ich bin die Fragen leid. Sie kennen mich doch, oder? Erinnern Sie sich nicht? Ich bin Magdalena. Ihre Freundin.
    D as Notizheft ist ein Hilfsmittel, um mit mir selbst und mit anderen zu kommunizieren. Um die Leerstellen zu füllen. Wenn alles von Nebel umhüllt ist, wenn jemand ein Ereignis oder ein Gespräch erwähnt, an das ich mich nicht erinnern kann, blättere ich in meinem Notizheft. Manchmal tröstet es mich zu lesen, was darin steht. Manchmal auch nicht. Es ist meine Bewusstseinsbibel. Es hat seinen Platz auf dem Küchentisch: groß und viereckig, mit Ledereinband und schwerem, cremefarbenem Papier. Jeder Eintrag ist mit einem Datum versehen. Eine nette Frau führt mich an den Tisch und setzt mich vor das Notizheft.
    Sie schreibt: 20. Januar 2009. Jennifers Notizen. Sie reicht mir den Stift. Sie sagt: Schreiben Sie auf,
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