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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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Dunkler Teint. Dunkles Haar, dunkle Augen, eine dunkle Aura, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf. Er sagt, er ist ledig, neunundzwanzig Jahre alt, Anwalt. Wie dein Vater!, sage ich schlau. Seine dunkle Aura verstärkt sich noch. Er blickt finster drein, anders kann ich es nicht ausdrücken.
    Ganz und gar nicht, sagt er. Nicht im Geringsten. Diese riesigen McLennan-Schuhe kann ich unmöglich ausfüllen. Berate die Mächtigen und achte die Währung des Königreichs. Dann verbeugt er sich spöttisch vor dem Porträt des schlanken, dunklen Mannes, das im Wohnzimmer hängt. Warum hast du mir nicht deinen Namen gegeben, Mom? Dann wären die Schuhe zwar genauso groß gewesen, aber sie hätten eine ganz andere Form gehabt.
    Genug!, sage ich nachdrücklich– denn jetzt erinnere ich mich wieder an meinen Sohn. Er ist sieben Jahre alt. Er kam eben ins Zimmer gerannt, die Hände an den Oberschenkeln, ein triumphierender Blick. Er ist klatschnass. Ich sehe, dass seine Hosentaschen mit den Goldfischen seiner Schwester gefüllt sind. Sie zappeln noch. Er wundert sich über meinen Ärger.
    Ein paar können wir retten, aber die meisten sind schon tot, und wir spülen sie in der Toilette hinunter. Seiner Begeisterung tut das keinen Abbruch, er sieht fasziniert zu, wie die letzten Goldfische im Klo verschwinden. Selbst als seine Schwester ihren Verlust entdeckt, zeigt er keine Reue. Nein. Im Gegenteil. Er ist stolz. Er hat an einem ansonsten ruhigen Nachmittag ein Dutzend kleine Morde begangen.
    Dieser Mann-der-angeblich-mein-Sohn-ist setzt sich in den blauen Sessel vor dem Wohnzimmerfenster. Er lockert seine Krawatte, streckt die Beine aus und macht es sich bequem.
    Magdalena sagt, es geht dir gut, sagt er.
    Sehr gut, antworte ich steif. So gut, wie es jemandem in meinem Zustand gehen kann.
    Erzähl mir davon, sagt er.
    Wovon?, frage ich.
    Davon, wie viel du von dem mitbekommst, was um dich herum passiert.
    Das wollen alle wissen, sage ich. Sie wundern sich, dass ich so viel mitbekomme, dass ich so…
    Dass du so sachlich bist?
    Ja.
    So bist du schon immer gewesen, sagt er. Er lächelt schief. Nicht unsympathisch. Als ich mir den Arm gebrochen habe, hast du dich mehr für meine Knochendichte interessiert als dafür, mich ins Krankenhaus zu bringen.
    Ich erinnere mich, dass sich jemand den Arm gebrochen hat, sage ich. Mark. Das war Mark. Mark ist bei den Janeckis im Vorgarten von einem Ahornbaum gefallen.
    Ich bin Mark.
    Sie? Mark?
    Ja. Dein Sohn.
    Ich habe einen Sohn?
    Ja. Mark. Das bin ich.
    Ich habe einen Sohn! Ich bin völlig verblüfft. Ich habe einen Sohn! Ich bin begeistert. Selig!
    Mom, bitte, nicht …
    Aber ich kann mein Glück nicht fassen. All die Jahre! Ich habe einen Sohn und habe es nie gewusst!
    Der Mann kniet vor mir und hält mich in den Armen.
    Es ist alles gut, Mom. Ich bin hier.
    Ich halte ihn ganz fest. Ein stattlicher junger Mann und, das Unglaublichste daran, von mir geboren. Irgendetwas an seinem Gesicht stimmt nicht, ein Schönheitsmakel. Aber in meinen Augen macht ihn das umso liebenswerter.
    Mom, sagt er nach einer Weile. Er löst seine Umarmung. Sofort fehlt mir die Wärme, doch ich lasse es widerstrebend geschehen und lehne mich zurück.
    Mom, ich wollte dir etwas Wichtiges sagen. Es geht um Fiona. Er steht vor mir, und er hat wieder diesen düsteren, wachsamen Blick wie am Anfang, als er gekommen ist. Ich kenne diesen Blick.
    Was ist mit ihr?, frage ich. Mein Ton ist nicht sehr freundlich.
    Mom, ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber sie ist schon wieder eingeschnappt. Du weißt ja, wie sie sein kann.
    Ich weiß es, aber ich sage nichts darauf. Ich habe es noch nie gemocht, über andere herzuziehen.
    Diesmal ist es schlimm. Richtig schlimm. Sie redet nicht mehr mit mir. Du konntest sie doch immer auf den Teppich bringen. Dad manchmal auch. Aber auf dich hat sie immer gehört. Könntest du vielleicht mal mit ihr sprechen? Er wartet ab. Verstehst du, was ich sage?
    Wo bist du gewesen, du Mistkerl?, frage ich.
    Wie bitte?
    Nach all den Jahren kommst du her und führst solche Reden?
    Schsch, Mom. Es ist alles gut. Ich bin hier. Ich war nicht weg.
    Wie meinst du das? Ich war allein. Ganz allein im Haus. Habe allein zu Abend gegessen, bin allein ins Bett gegangen. Ganz allein.
    Das stimmt nicht, Mom. Bis letztes Jahr war Dad noch hier. Und Magdalena ist auch da.
    Wer?
    Magdalena. Deine Freundin. Die Frau,
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