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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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die bei dir hier wohnt.
    Ach die. Sie ist nicht meine Freundin. Sie bekommt Geld. Ich bezahle sie.
    Das bedeutet nicht, dass sie nicht auch deine Freundin ist.
    Doch, das tut es. Plötzlich bin ich sauer. Wütend! Du Mistkerl!, sage ich. Du hast mich im Stich gelassen!
    Der Mann steht langsam auf und seufzt. Magdalena!, ruft er.
    Hast du gehört? Du Mistkerl!
    Ja, ich hab’s gehört. Er sieht sich um, scheint etwas zu suchen. Meine Jacke, sagt er. Hast du meine Jacke gesehen?
    Eine Frau kommt eilig ins Zimmer. Blond. Kräftig. Sie gehen jetzt besser, sagt sie. Schnell. Hier ist Ihre Jacke. Ja. Danke, dass Sie gekommen sind.
    Tja, also, ich kann nicht behaupten, dass es Spaß gemacht hat, sagt der Mann zu mir und wendet sich zum Gehen.
    Raus!
    Die blonde Frau hebt eine Hand. Sie kommt langsam auf mich zu. Nein, Jennifer. Legen Sie das weg. Bitte, legen Sie das weg. Also wirklich, musste das sein?
    Was ist passiert. Ein Unfall. Das Telefon liegt im Flur, umgeben von Glasscherben. Kalte Luft weht herein, die Gardinen blähen sich. Draußen wird eine Autotür zugeschlagen, ein Motor wird angelassen. Ich fühle mich lebendig, ich fühle mich bestätigt, zu allem bereit. Ich bin noch lange nicht fertig. Von der Sorte Gefühle habe ich noch eine Menge. Ja, eine ganze Menge.
    A us meinem Notizheft:
    Ein guter Tag. Sehr guter Tag, fast klarer Verstand. Habe mich selbst einem Mini-Mentalstatus-Test unterzogen. Bei Jahr, Monat und Tag war ich mir nicht sicher, aber die Jahreszeit konnte ich klar angeben. Mein Alter wusste ich nicht, aber ich habe die Frau im Spiegel erkannt. Das Haar ist immer noch leicht rotbraun, das Braun der Augen nicht verblasst, die Fältchen um die Augen und an der Stirn sind zwar nicht unbedingt Lachfältchen, doch sie zeugen von einem gewissen Sinn für Humor.
    Ich kenne meinen Namen: Jennifer White. Ich kenne meine Adresse: 2153 Sheffield Avenue. Und der Frühling hat angefangen. Es duftet nach warmer, feuchter Erde, Erneuerung liegt in der Luft, alles erwacht aus einem Schlafzustand. Ich habe die Fenster geöffnet und dem Nachbarn von gegenüber zugewinkt, der gerade dabei war, seinen Vorgarten umzugraben und den Boden für Engelstrompeten, Seidenblumen und Sommerflieder vorzubereiten.
    Bin in die Küche gegangen und habe mich erinnert, wie man den starken, bitteren Kaffee macht, den ich so sehr mag: die Bohnen in die Mühle schütten, den Duft einatmen, während die Messer die harten Bohnen zerschlagen, mehrere Löffel des dunkelbraunen Mehls in die Kaffeemaschine abzählen, frisches kaltes Wasser in den Behälter füllen.
    Dann kam Fiona vorbei. Ach, meine Tochter macht mir Freude! Mit ihren koboldhaft kurzen Haaren und der blau-roten Klapperschlange, die auf ihren rechten Oberarm tätowiert ist. Normalerweise verbirgt sie die Schlange, und nur wenige Auserwählte in ihrem derzeitigen Leben wissen davon. Von ihren wilden Zeiten.
    Sie kam, um meine Kontoauszüge abzuholen und sich ein paar Zahlen anzusehen, die ich nicht verstehe. Macht nichts. Ich habe ja mein Finanzgenie. Meine Geldverwalterin. Hat die Highschool mit sechzehn abgeschlossen, das College mit zwanzig. War mit vierundzwanzig die jüngste Professorin der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der University of Chicago. Ihr Spezialgebiet ist internationale Geldwirtschaft– sie hält regelmäßig Vorträge in Washington, London, Frankfurt.
    Nach James’ Tod und nachdem meine Diagnose feststand, habe ich ihr die Vollmacht über meine Geldangelegenheiten übertragen. Ich vertraue ihr. Meiner Fiona. Sie legt ein Papier nach dem anderen vor mich, und ich unterschreibe alles, ohne es zu lesen. Ich frage sie, ob irgendetwas dabei ist, das ich mir genauer ansehen sollte, und sie sagt Nein. Aber heute war es anders. Sie hat mir keine Papiere vorgelegt, sondern nur bei mir am Tisch gesessen und meine Hand gehalten. Meine wunderbare Tochter.
    I n unserer Alzheimer-Selbsthilfegruppe sprechen wir heute über Dinge, die wir hassen. Hass ist ein starkes Wort, sagt unser junger Gruppenleiter. Frag eine Demenzpatientin, wen sie liebt, und sie kann dir keine Antwort geben. Frag sie, wen sie hasst, und ihre Erinnerung funktioniert perfekt.
    Hass. Hass. Das Wort hallt in meinem Kopf wider. Mein Magen zieht sich zusammen, und Galle steigt mir in den Hals. Ich hasse. Meine Hände sind zu Fäusten geballt. Gesichter wenden sich mir zu, schauen mich an. Ein
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