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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers
Autoren: Philipp Vandenberg
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PROLOG
    I ch heiße Hildebrand von Aldersleben, nach einem kleinen Dorf im Fränkischen, wo ich vor beinahe 50 Jahren zur Welt kam. Manche halten mich für einen Mann von Adel, dabei bin ich nichts weiter als ein fahrender Sänger, ein Gaukler, wenn ihr wollt, und vogelfrei, und jeder Landsknecht könnte mich meucheln, ohne eine Strafe fürchten zu müssen.
    Meine mir angeborene Bescheidenheit verbietet mir, mich einen Minnesänger zu nennen wie jener Reimar von Hagenau oder Neidhart von Reuenthal oder gar Oswald von Wolkenstein, der, mit nur einem Auge wie der unselige Riese Polyphem, Gedichte schrieb, die noch heute zu Tränen rühren, und Lieder komponierte, die er in Anwesenheit schöner Frauen vortrug. Jetzt ist er schon hundert Jahre tot. Er zählte zu den Größten seiner Zunft.
    Ganz zu schweigen von Walther von der Vogelweide, dem Geadelten, der mit Königen und Kaisern auf Du und Du stand und mit seinem Sprechgesang und seinem Dumdideldei die Frauen verzückte. Seine Texte, da bin ich sicher, werden noch bewundert werden, wenn keinem mehr im Gedächtnis ist, wo Walther geboren und begraben wurde.
    Mir, Hildebrand dem Geschichtenerzähler, wird es nicht anders ergehen. Aber das stimmt mich nicht traurig, im Gegenteil. Schließlich lebe ich nicht schlecht vom Geschichtenerzählen – von Geschichten, die ich selbst erlebt oder von anderen erfahren habe.
    Das Volk giert nach Geschichten, mehr noch als nach hochtrabendem Minnesang. Nicht umsonst ist die Bibel zum Buch der Bücher geworden. Nur Pfaffen und ihre frömmlerischen Anhänger glauben, das Versprechen ewigen Lebens sei der Grund dafür. Weit gefehlt. Der Erfolg der Bibel beruht auf zahllosen Geschichten, die von Eifersucht und Brudermord, Ehebruch und Triebleben erzählen. Nicht einmal vor Zauberei macht die Bibel halt, obwohl diese vom römischen Papst als Gottlosigkeit und damit als schwerste aller Sünden verurteilt wird. Wäre mir vergönnt, dem Pontifex maximus jemals zu begegnen, würde ich ihm die schlichte Frage stellen, wie er die Fähigkeit des Herrn, über das Wasser zu wandeln, bezeichnen würde, wenn nicht als Zauberei.
    Was mich betrifft, muss ich bei meinen Erzählungen auf niemanden Rücksicht nehmen. Mich kümmern weder die Gesetze der Natur noch die der Moral, denn ich erzähle Geschichten aus dem Leben. Und das Leben hat seine eigenen Gesetze. Gesetze, die mal dem einen, mal dem anderen missfallen. Gesetze sind ohnehin so fragwürdig wie das Versprechen ewiger Glückseligkeit, wobei noch niemand den Beweis für deren Existenz erbracht hat. Ist es nicht so, dass die Bestimmung, wie etwas sein oder geschehen soll, schon jenseits eines Flusses oder Gebirges nicht mehr gilt, ja verspottet wird, weil dort ganz andere Gesetze gelten, über welche wiederum wir uns lustig machen?
    Ich, Hildebrand, der Geschichtenerzähler, scheue mich nicht, Geschichten von Zauberern und Hexen zu erzählen. Selbst der Teufel, von dem manche sagen, es gebe ihn gar nicht, während andere sichtbar von ihm besessen scheinen, selbst der Teufel spielt in meinen Geschichten keine unbedeutende Rolle. Es gibt Zeitgenossen, die meinen, all das entspringe meiner Phantasie wie die Verse des größten aller Geschichtenerzähler, Homer mit Namen, dem keiner von uns das Wasser reichen kann. Darüber jedoch soll sich jeder seine eigene Meinung bilden.
    Zwar will ich eingestehen, dass auch ich schon über Länderberichtet habe, die mir fremd sind wie die neu entdeckte Welt jenseits des großen Ozeans, in die ich nie im Leben meinen Fuß gesetzt habe. Aber kommt es wirklich darauf an? Wenn es mir gelingt, das Land in der Vorstellung des Einzelnen lebendig werden zu lassen, sehe ich mein Ziel erreicht. Da ist es ohne Bedeutung, ob eine Wiese im Tal mit Lichtnelken bewachsen ist oder mit fremdartigen Blumen, deren Farben noch keiner gesehen und deren Namen keiner erfahren hat. Für den Geschichtenerzähler ist von Wichtigkeit, wer sich auf dieser Wiese begegnet: der Ritter seinem Erzfeind, der Räuber dem reichen Prasser, der Jüngling seiner Geliebten, der lüsterne Mönch der schüchternen Jungfrau.
    In meinem aufregenden Leben habe ich viele Menschen kennengelernt, die es verdient hätten, sich ihnen länger zu widmen. Immer wieder waren es Frauen, die meinen Weg kreuzten, denen ich sogar zum Objekt der Begierde wurde und umgekehrt. Aber die Zeit – heute hier, morgen da – erlaubte selten, mich näher mit ihnen abzugeben. Leider – stelle ich heute mit Wehmut und
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