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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers
Autoren: Philipp Vandenberg
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Morgensuppe sie erneut aufforderte, bei der Äbtissin vorstellig zu werden, und dabei die Augen verdrehte, als nähme sie daran Anstoß, da ahnte Magdalena nichts Gutes. Ihr Verhalten der Äbtissin gegenüber, dachte sie, würde gewiss irgendwelche Strafhandlungen nach sich ziehen, wie Kloaken reinigen oder, wenn es schlimmer kommen sollte, Dunkelhaft im Kellergeschoss ohne jede Nahrung.
    Von einem Augenblick auf den anderen war deshalb ihr Entschluss gefasst. Als die Nonnen nach der Morgensuppe vom Refektorium zum Schlafsaal, zwei Stockwerke höher, emporstiegen, begab sich Magdalena in die darüber liegende Kleiderkammer, holte das gerichtete Bündel aus der Truhe und warf es im Treppenhaus aus dem Fenster. Nach Tagen hatte der Regen endlich nachgelassen, und Magdalena empfand dies als einen Wink des Himmels.
    Noch bevor die Nonnen ihre Arbeit im Dormitorium verrichtet hatten, begab sie sich nach unten. Die Pforte war so früh am Morgen noch nicht besetzt, und so fiel niemandem auf, wie sie durch die kleine Pforte ins Freie schlüpfte und, sich bedächtig an der Klostermauer entlangdrückend, die Stelle aufsuchte, an der sie das Bündel aus dem Fenster geworfen hatte.
    Hurtig entkleidete sie sich und tauschte ihr Nonnenkleid gegen das vornehme Gewand. Die Tracht wickelte sie zu einem Bündel. Um Zeit vor möglichen Verfolgern zu gewinnen, lief sie im Morgengrauen in Richtung des Flusses. Am Mainufer angelangt, schleuderte sie ihre alte Kleidung in das träge dahinfließende Gewässer. In einem Anflug von Melancholie betrachtete sie das flussabwärts treibende Nonnenkleid, als blickte sie auf ihr ganzes bisheriges Leben zurück. Vier Jahre hatte das strenge Gewand sie eingeengt, umklammert und an ein Leben gefesselt, dem sie zunächst keineswegs abgeneigt gewesen war. Im Laufe der Jahre hatte es sich jedoch als Trugbild, ja, als Albtraum entpuppt.
    Dass sie ihr Nonnenkleid in den Fluss warf, geschah nicht ohne Hintergedanken. In einer Biegung des Flusses, von denen der Main so viele in die hügelige Landschaft zeichnete wie kein anderes Gewässer, würde die Zisterzienserinnentracht wohl angeschwemmt werden. Dies ließ die Deutung zu, die Nonne sei freiwillig aus dem Leben geschieden – Grund genug, die Suche nach ihr einzustellen.
    Eine Weile schwamm das Bündel nahe dem Flussufer, bis es sich aufblähte wie der Bauch einer Wasserleiche und, von einemkühlen Luftstrom erfasst, in die Mitte des Flusses getrieben wurde, wo es nach kurzer Zeit ihren Blicken entschwand.
    Aus dem Gedächtnis wusste Magdalena, dass das Lehen ihres Vaters in südöstlicher Richtung lag und dass sie mit dem Pferdewagen zwei Tage gebraucht hatten, um das Kloster zu erreichen. Zu Fuß und mit der Sonne als einziger Orientierung würde sie gewiss doppelt so lang brauchen, vorausgesetzt, sie fand den unbefestigten Fahrweg, der im Wald wenige Meilen am Lehnsgut ihres Vaters vorbeiführte. Wegweiser gab es nicht, nur hin und wieder einen Zinken an einer Buche oder flüchtig auf einen Stein gezeichnet, jene rätselhaften Hinweise der Gaukler und Zigeuner, die sonst niemand verstehen konnte. Übersät von feuchtem Laub, von dem ein modriger Geruch aufstieg, war der weiche Waldboden einem schnellen Vorankommen nicht gerade förderlich. Zudem zog der Saum des langen Kleides die Feuchtigkeit an und wurde schwerer und schwerer.
    Auf einem entwurzelten Baum, der quer im Wege lag, ließ sich Magdalena zu einer kurzen Rast nieder. Den Kopf in die Hände gestützt, blickte sie abwesend ins Unterholz, und plötzlich rannen ihr dicke Tränen über die Wangen. Gefragt nach der Ursache ihrer Traurigkeit, hätte sie keine rechte Antwort gewusst. Es war wohl die Angst vor dem Ungewissen, die auf ihr lastete.
    Bevor sie ihren Weg fortsetzte, hob Magdalena ihre Röcke und versuchte den handbreiten feuchten Saum ihres Gewandes auszuwringen. Dabei machte sie eine seltsame Entdeckung. Im Stoff verborgen fühlte sie ein kreisrundes, gut zwei Finger breites Etwas – ein Knopf vielleicht oder eine Gemme. Neugierig drückte Magdalena das rätselhafte Gebilde mit beiden Händen bis zu einer Stelle, an der die Saumnaht nachgab, sodass sie es herauszwirbeln konnte: Es war ein blitzender Golddukat, ein kleines Vermögen.
    Wann und auf welche Weise das wertvolle Stück in den Saum des fremden Kleides gelangt sein mochte – Magdalena machte sich keine großen Gedanken und steckte es in den Saum zurück. Hoffnungsvoll setzte sie ihren Weg fort.

2. KAPITEL
    N ach sieben
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