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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers
Autoren: Philipp Vandenberg
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Wiesen herumtollte, mit Stöcken und Netzen bewaffnet Wiesel und Kaninchen jagte und dabei meist erfolglos blieb.
    »Melchior, lieber Melchior«, rief Magdalena und half dem Holzknecht auf die Beine.
    Als er wieder Boden unter den Füßen hatte, faltete er theatralisch die Hände wie zum Gebet und deutete mit dem rechten Zeigefinger gen Westen.
    Magdalena verstand sofort, was er sagen wollte. »Du meinst, warum ich nicht im Kloster Seligenpforten bin?«
    Melchior nickte.
    »Ich habe es nicht mehr ausgehalten und bin einfach fortgelaufen. Dabei hatte ich gehofft, ein paar Tage bei meinem Vater und meinem Bruder unterzukommen. Jetzt musste ich erfahren, dass beide nicht mehr am Leben sind. Und meines Bruders Witwe hat mich vom Hof gejagt.«
    Magdalena unterstrich ihre Worte mit gespreizten Daumen und Zeigefingern. Ein paar wenige Begriffe der Stummensprache waren ihr im Gedächtnis geblieben.
    Schließlich zupfte Melchior an Magdalenas durchnässtem Kleid, und mit wenigen Handbewegungen deutete er an, sie könne sich in dem nassen Gewand den Tod holen, sie solle ihm folgen.
    »Aber die Witwe hat mich abgewiesen!«, wandte Magdalena ein.
    Der Knecht machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte er sagen: Lass mich nur machen! Und mit einem weiteren Zeichen fügte er hinzu: Komm!
    Magdalena verdrängte ihre anfänglichen Bedenken und folgte dem stummen Knecht auf die andere Seite des Baches. Es dämmerte bereits, und die Stille über dem weiten Tal veranlasste Magdalena zum Schweigen.
    Vorsichtig näherten sich Melchior und Magdalena der rechter Hand vom Haupthaus gelegenen Scheune. Bevor der Knecht das hohe Holztor mit einem kräftigen Fußtritt aufstieß, gab er Magdalena ein Zeichen, sie solle draußen warten und sich ruhig verhalten. Dann verschwand er im Innern des Gebäudes.
    Durch den Türspalt drang ein Schwall warmer Luft ins Freie. Er roch süßsauer wie Heu nach einem Gewitterregen. Magdalena spürte das dringende Bedürfnis, wenigstens eine Nacht im Trockenen zu verbringen. Sie fröstelte in ihrem durchnässten Gewand. Nach endlosem Warten – jedenfalls schien es ihr so – steckte Melchior den Kopf durch den Türspalt, legte den Zeigefinger auf die Lippen und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen.
    Der Mittelgang der Scheune, gerade so breit wie das zweiflügelige Tor, war, soweit man das in der Dunkelheit erkennen konnte,mit mehreren hochrädrigen Leiterwagen und allerlei hölzernen Gerätschaften wie Eggen und Pflügen zugestellt. Es gab kaum ein Durchkommen. Mächtige Stützbalken zu beiden Seiten trugen das Dachgebälk. Vor einem der Balken machte Melchior halt. Wie die Äste einer wohlgeratenen Tanne ragten links und rechts daumendicke Pflöcke aus dem Balken und bildeten so eine Art Sprossenleiter.
    Melchior kletterte voran. Etwa in halber Höhe hielt er inne und blickte nach unten. Dabei gab er einen gurgelnden Laut von sich. Magdalena wusste sofort, was er sagen wollte: Komm! Machs mir nach!
    Als Kind war ihr kein Baum zu hoch, kein Bach zu breit und kein Teich zu tief gewesen. Angst kannte sie nicht. Aber das war lange her. Jetzt saßen ihr Schrecken und Müdigkeit von sieben Tagesmärschen in den Knochen. Einen Augenblick zögerte sie, trug sich mit dem Gedanken fortzulaufen. Aber dann kam ihr die klamme Kälte in den Sinn und das feuchte Moos, das sie in der Nacht im Freien erwartete, und sie setzte den Fuß auf die erste Sprosse. Aus Kindertagen wusste sie, dass man beim Äpfelpflücken nie nach unten blicken darf, und so hangelte sie sich, bedächtig dem Holzknecht folgend, bis zum oberen Heuboden hinauf, wo Melchior ihr die Hand entgegenstreckte.
    Der Platz unter dem Dachgebälk war mit Heu ausgelegt und vermittelte den Eindruck, als hätte er schon häufiger als Nachtlager gedient. Aus einer hinteren Ecke wehte bestialischer Gestank herüber. Durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln fiel spärliches Dämmerlicht. Melchior nickte zufrieden, dann kletterte er flink wie eine Katze nach unten und verschwand wieder.
    Vom Hof her hörte man das Jaulen eines Hundes, und aus dem Stallgebäude gegenüber schallte das Muhen hungriger Kühe. Magdalena schloss die Augen. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus Seligenpforten fühlte sie sich in Sicherheit. Sie musste nicht auf jedes Geräusch achten. Und während sie vor sich hindöste, wurden Erinnerungen an ihre Kindheit wach, als sie mutterseelenallein dieumliegenden Wälder durchstreifte und Pilze, Beeren und Kräuter sammelte, giftige wie solche von
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