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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers
Autoren: Philipp Vandenberg
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köstlichem Duft und Geschmack. Melchior war es, der damals Gutes von Schlechtem getrennt und ihr das Wissen um die Ernte vermittelt hatte, die der Wald hergab.
    Eines Tages im Spätherbst hatte plötzlich ein bärtiger Mann im heruntergekommenen Ordenskleid vor ihr gestanden, mit einem rauen Sack über der Schulter, und sie freundlich angelächelt. Sie wollte fortlaufen, aber der Blick des Mannes hatte eine lähmende Wirkung. Sie stand wie versteinert, als der Mönch ihr stumm zu verstehen gab, er sei ein Wandermönch und habe sich verlaufen. Da nahm sie ihn mit. Auch ihr Vater hatte sich von der Schweigsamkeit des Fremden einnehmen lassen.
    Nach einer Weile kam Melchior zurück. Er trug einen Korb bei sich und eine flackernde Laterne. Korb und Laterne hakte er an seinem Gürtel ein und erklomm so das Versteck unter dem Dach. Die Laterne stellte er auf den Boden, sodass sie lange Schatten auf das Gebälk warf. Aus dem Korb holte er einen Kanten Brot, unter einem Fell versteckt, halb verkohlt, wie er den Knechten vorgesetzt wurde, einen duftenden Fetzen Pökelfleisch, zwei Rettiche und ein bauchiges Tongefäß mit Wasser.
    Von einem Augenblick auf den anderen begann Magdalenas Magen sich bemerkbar zu machen. Von der kargen Klosterkost nicht gerade verwöhnt, hatte sie sich seit sieben Tagen von dem ernährt, was der Wald hergab, und dabei kaum Hunger verspürt. Doch nun überkam sie plötzlich ein Heißhunger. Sie riss dem Knecht Brot und Fleisch aus den Händen und verschlang es gierig wie ein wildes Tier. Als sie den größten Hunger gestillt hatte, schämte sie sich. Stumm sah sie Melchior an, als wollte sie ihn um Verzeihung bitten wegen ihrer Unbeherrschtheit. Der verstand ihre Geste und machte eine abwehrende Handbewegung mit der Rechten: Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen!
    Als Melchior sah, dass Magdalena fröstelte, zog er in gebückter Haltung einen Ballen Heu nach vorne und breitete ihn vor ihr aus.Dann bedeutete er ihr, sie möge ihr Kleid ausziehen, er wolle das nasse Gewand zum Trocknen auslegen, sie könne sich mit dem Fell bedecken.
    Bedenkenlos kam Magdalena seiner Aufforderung nach und entledigte sich ihrer Kleider. Melchior legte ihr das Fell um die Schultern und häufte Heu um sie auf, zum Schutz vor der Abendkühle. In ihrer Kindheit hatte sie nicht selten zur Sommerzeit im Heu Schutz gesucht vor den Nachstellungen ihres rabiaten Bruders. Nicht selten hatte sie sich dabei in Melchiors Arme geflüchtet. Melchior war der Einzige gewesen, der sie jemals in ihre Arme schloss. Und daran hatte sich bis heute nichts geändert.
    Während Magdalena schweigend ihren Erinnerungen nachhing, wurden ihr die Augen schwer. Schließlich formte sie mit beiden Händen einen Ballen Heu zu einem Kissen und legte sich zum Schlafen nieder. Eigentlich wollte sie Melchior mitteilen, dass sie hundemüde war und nur ein wenig ausruhen wollte; aber dazu kam es nicht. Magdalena schlief sofort ein.
    Sie wusste nicht, wie lange sie schlafend unter dem Fell zugebracht hatte, als sie ein unangenehmes Stechen in der Nase verspürte und einen peinigenden Gestank. Magdalena schlug die Augen auf.
    Zunächst glaubte sie, die aufgehende Sonne schiene ihr ins Gesicht. Es dauerte endlose Sekunden, bis sie begriff, was geschehen war: Das Talglicht in der hölzernen Laterne war niedergebrannt und hatte die Laterne und dann die Dielenbretter entflammt. Jeden Augenblick konnte das Heu Feuer fangen.
    Vor ihr lag Melchior wie tot. Nur leichte Zuckungen in seinem Gesicht verrieten, dass er noch am Leben war.
    Magdalena warf das Fell beiseite. Nackt, wie sie war, versuchte sie den schlafenden Knecht wachzurütteln. »Melchior!«, rief sie. »Melchior, wach auf, es brennt!«
    Endlich öffnete der Knecht die Augen. Und als ihm, noch schlaftrunken, klar wurde, was sich da vor seinen Augen abspielte, stießer einen furchterregenden Schrei aus. Der Anblick der züngelnden Flammen verzerrte sein Gesicht, und sein wuchtiger Leib begann zu zittern wie ein getroffener Eber, den der Jäger soeben mit dem Speer erlegt hat. Bange Augenblicke verharrte er in dieser Haltung, doch dann sprang er plötzlich auf, packte Magdalenas Kleid, das er zum Trocknen ausgelegt hatte, und warf es nach unten. Ebenso ihre Sandalen und die linnene Haube, mit der sie ihren kahlen Schädel bedeckte.
    »Und jetzt komm!«, vernahm sie Melchiors Stimme. »Komm!«
    Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Magdalena glaubte, der beißende Qualm des Feuers vernebelte ihre Sinne,
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