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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers
Autoren: Philipp Vandenberg
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Bedauern fest. Aber mir ist nach einem ereignisreichen Leben auch klar geworden: Ein fahrender Geschichtenerzähler, ein Vagant und Gaukler hat es schwer mit einer Frau an seiner Seite. Ein Geschichtenerzähler lebt von der Sehnsucht des Mannes nach einer Frau. Und diese Lüsternheit, Begehrlichkeit oder Naschhaftigkeit – nennt es, wie ihr wollt – zieht sich durch alle Geschichten, die ich im Gedächtnis habe.
    Zu den anrührendsten und aufregendsten zählt die folgende Geschichte. Es ist im Übrigen die einzige, welche ich zu Papier gebracht habe – eine langwierige Angelegenheit. Denn so leicht es mir fällt, meine Gedanken mit schneller, flüssiger Zunge zu formen, so schwer fällt es mir, diese stumm mit ungelenker Hand aufzuschreiben. Die Sprache wird dem Menschen in die Wiege gelegt, die Schrift muss er sich erdienen.
    Verzeiht mir also, wenn ich bisweilen vulgär werde und schreibe, wie ich rede. Dahinter steckt keine Absicht. Für hochtrabende Worte ist der abtrünnige Mönch aus Wittenberg zuständig. Doch auch derversteigt sich nicht selten ins Ordinäre. Ich schreibe so, wie mir der Schnabel gewachsen ist und so, wie es dem Milieu angemessen erscheint, in dem sich die Frau, von der hier die Rede ist, bewegte.
    Erwartet also von mir keine Erzählungen wie Wunderblüten mit betörendem Duft. Dazu ist das Leben zu nüchtern – vor allem jenes der schönen Magdalena. Ihre Geschichte von Liebe und Leidenschaft, Glück und Leid, Tugend und Laster, Gottesfurcht und Gottlosigkeit hätte genügt, drei Leben anzufüllen; und doch ist es nur das eine, von dem ich berichten will.

1. KAPITEL
    U m Mitternacht gellte die Glocke des Dormitoriums und rief die Nonnen zur Matutine, dem ersten Stundengebet des neuen Tages. Vor der Türe des lang gestreckten Schlafsaals schallte die dürre, heisere Stimme der Äbtissin: »Erhebt eure sündhaften Leiber und preiset den Herrn. Raus mit euch!«
    Verschlafen murmelten die siebzig Nonnen: »Dank sei Gott!« und wälzten sich aus ihren rohen, aus knorrigem Holz gezimmerten und mit Strohsäcken ausgelegten Bettkästen. Jeweils 35 dieser Kästen standen sich an den beiden Längswänden mit den Fußenden voraus gegenüber, sodass nur ein schmaler Durchgang frei blieb. Zwischen den Betten diente rechter Hand jeweils ein Stuhl zur Aufnahme der Ordenskleidung während der Nacht.
    Magdalena, der man beim Eintritt ins Kloster vor vier Jahren den Ordensnamen Laetitia gegeben hatte, schob die raue Decke beiseite und setzte sich benommen auf die Bettkante. Durch das derbe bodenlange Leinenhemd, das sie wie alle anderen bei Tag und Nacht anbehielt, schnitt das ungehobelte Bett in ihre Oberschenkel. Sie hielt einen Augenblick inne und schaute durch das unverglaste, kleine Fenster auf der gegenüberliegenden Seite. Magdalena fröstelte. Ein eiskalter, modriger Luftzug schlug ihr von der Luke entgegen. Nur im strengen Winter bei klirrender Kälte wurden die Fenster mit einem Sack Heu verschlossen.
    Unter allen Kasteiungen, welche der Orden der Zisterzienserinnen den Nonnen auferlegte, war diese Magdalena zunächst amrätselhaftesten erschienen: Es wollte ihr nicht in den Kopf, warum eine vor Kälte schlotternde Nonne Gott, dem Herrn, näher sein sollte als eine warm gebettete. Das Rätsel fand jedoch schon nach wenigen Nächten im Dormitorium eine einleuchtende Erklärung, als Magdalena – sie wollte ihren Ohren nicht trauen – zu nachtschlafender Zeit ungehörige Geräusche vernahm. Ungehörig insofern, als diese zweifelsfrei als Ausdruck körperlichen Lustempfindens gedeutet werden mussten, also als klaren Verstoß gegen das Keuschheitsgelübde einer Zisterzienserin.
    Schon bald war Magdalena klar geworden, dass es in einem Nonnenkloster Feindschaften, aber auch Liebschaften gab wie im normalen Leben. Was die Liebschaften betraf, waren diese so geheim wie die Geheime Offenbarung des Johannes. Der Vergleich hinkte keineswegs, immerhin bietet das eine wie das andere genügend Möglichkeiten der Interpretation.
    Tatsache ist, offiziell lebten die Nonnen in ihrem Kloster Seligenpforten, in halber Höhe über dem Maintal gelegen, in Demut und Keuschheit, streng nach den Regeln des heiligen Benedikt. Insgeheim, vor allem nächtens, schien es, als ließen sie ihren Gefühlen und körperlichen Bedürfnissen freien Lauf.
    Die Äbtissin von Seligenpforten, eine hochgewachsene, androgyne Frau von großer Bildung, hatte diese Vorkommnisse zum Anlass genommen, den Wallungen der Nonnen Einhalt zu
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