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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers
Autoren: Philipp Vandenberg
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zur Kleiderkammer oben unter dem Dach führte, versperrten ihr zwei Nonnen den Weg. Die eine, mit einem Hinterteil wie ein Brauereiross und Beinen wie die Säulen in der Klosterkirche, hielt ihr Essgeschirr in der Hand. Die andere, gut einen Kopf größer als Magdalena, riss ihr, noch ehe sie sich versah, die Haube vom Kopf. Mit bloßen Händen begannen die beiden auf sie einzuschlagen.
    »Wir werden dich lehren, deine Morgensuppe in unsere Schalen zu kippen!«, fauchte die Riesin und entleerte ihr Essgefäß über Magdalenas kahlem Kopf.
    Magdalena schrie und spuckte, und nach verzweifelter Gegenwehr entkam sie in die Kleiderkammer. Erschöpft und verzweifelt ließ sie sich auf einer Kastentruhe nieder. Weinend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen, und in hilfloser Wut fasste sie den Entschluss, das Kloster Seligenpforten bei der nächsten Gelegenheit,die sich böte, zu verlassen. Auf jeden Fall noch vor Ablegung ihrer Profess, die in wenigen Tagen bevorstand.
    Der Gedanke versetzte sie in Panik. Das Kloster zu verlassen war leichter gedacht als getan. Wohin sollte sie fliehen? Vom Vater und Bruder, die sie vor vier Jahren hier abgeliefert hatten, weil auf dem Lehenshof für sie kein Platz war, hatte sie seit dieser Zeit nichts mehr gehört. Und sowohl ihr Vater als auch der Bruder hatten bei der Verabschiedung unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass es ein Abschied für immer sein sollte. Weibliche Nachkommen waren auf einem Lehen unerwünscht.
    Magdalena war sich nicht sicher, ob ihr Vater sie womöglich mit der Peitsche vom Hof jagen würde, wenn sie das Kloster verließ. Dennoch wollte sie die Flucht wagen.
    Im Kloster hatte sie viel gelernt, sich im Lesen und Schreiben geübt und sich sogar mit Latein beschäftigt. Mit Begeisterung hatte sie sich in der Bibliothek, über die eine gelehrte Zisterzienserin Aufsicht führte, weitergebildet und sich dabei ein respektables Wissen angeeignet.
    Als die Aufseherin der Kleiderkammer selig im Herrn verschieden war, hatte die Äbtissin nach einer Nachfolgerin gesucht und Magdalena, ohne Rücksicht auf ihre Eignung und Neigung, für die Aufgabe bestimmt.
    Die Kleiderkammer unter dem Dachgebälk des Klosters, in die Magdalena sich geflüchtet hatte, diente der Aufbewahrung der weltlichen Kleidung, welche von den Novizinnen bei ihrem Eintritt ins Kloster abgegeben und gegen die Nonnentracht vertauscht wurde. Letztere lagen zu Dutzenden und in allen Größen in klotzigen Schränken. Die weltlichen Kleider waren in Truhen und Kästen abgelegt. In ihrer Vielzahl hätten sie der Mitgift einer Königstochter zur Ehre gereicht. Schließlich stammten nicht wenige Nonnen im Kloster Seligenpforten aus adeligem Geschlecht.
    Auf der Suche nach ihrem bäuerischen Gewand, das sie bei ihrem Eintritt ins Kloster getragen, aber seitdem nicht mehr zuGesicht bekommen hatte, stieß Magdalena auf kostbare Kleider aus Samt, verbrämt mit Pelzkrägen und Knöpfen aus Elfenbein, Tücher aus Seide und fein gewebte Decken, die sie in einen wahren Rausch versetzten wie der Weihrauch beim Sanctus. Dazu trug vor allem der scharfe Duft von Lavendelblüten bei, welche, büschelweise getrocknet, Motten und anderes schädliches Getier abhalten sollten.
    Als schlüpfte der Teufel aus einem der vornehmen Kleider, kam Magdalena der sündhafte Gedanke, sich auf ihrer Flucht in eines der kostbaren Gewänder zu kleiden. Im Notfall trüge sie auf diese Weise einen Wert am Leibe, den sie zu Geld machen könnte. Denn Geld für die Flucht hatte sie nicht. Zwar waren unter den Nonnen Münzen in Umlauf, doch um in den Besitz von Geld zu kommen, bedurfte es ungestümer Leidenschaft zum eigenen Geschlecht oder anderer Gefälligkeiten, denen Magdalena ablehnend gegenüberstand.
    In einer Reisetruhe mit eisernen Griffen und einem verblichenen Wappen an der Vorderseite entdeckte Magdalena ein Kleid aus lindgrünem Leinen und von vornehmer Machart, wie es die Tochter eines reichen Tuchmachers oder die Frau eines Stadtherrn getragen haben mochte. Dazu passend, fand sich eine bauschige Haube, welche ihren kahl geschorenen Schädel vorteilhaft verbarg. Die Haube und das auserwählte Kleidungsstück wickelte Magdalena zu einem Bündel und legte es in die Truhe zurück in der Absicht, ihren Fluchtplan noch ein paar Tage zu überdenken und abzuwarten, bis der Regen nachließ, der seit Tagen in dunklen Wolken über dem Maintal hing. Doch traf es sich anders.
    Als am nächsten Morgen die alte Hildegunde beim Verteilen der
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