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Novemberrot

Novemberrot

Titel: Novemberrot
Autoren: Markus Theisen
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Vorgeschichte
    Es war ein nass-kalter Morgen an jenem Tag im November 1946, als der Zug in den Burgstadter Bahnhof, genauer gesagt in das, was davon noch übrig war, donnernd und qualmend einrollte. Dass seine Frau und seine kleine Tochter hier auf ihn warten würden, darauf hatte Michael Bergheim zwar gehofft, aber woher sollten sie wissen, dass er ausgerechnet heute ankommt. Schließlich hatte seine Familie seit dem Sommer 1944 nichts mehr von ihm gehört. Nachdem er aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, mussten er und seine Kameraden zu Fuß oder per Eisenbahn – untergebracht in kalten, zugigen Güterwagons, die nur spärlich mit Stroh ausgelegt waren – ihre beschwerliche Heimreise angetreten. Aber all die Strapazen waren Michael nahezu egal, denn nur der Gedanke, den Krieg überlebt zu haben und endlich seine Frau Maria und seine kleine Tochter Rosemarie, die von allen nur Rosi genannt wurde, wieder in den Armen halten zu können, trieb ihn unentwegt an. Der Zug stoppte unter dem schrillen, langgezogenen Schrei der Bremsen. Bergheim, der als Einziger hier ausstieg, klappte die eiserne Verriegelung nach oben, zog die hölzerne Tür des Wagons auf, verabschiedete sich kurz aber herzlich von seinen Begleitern und sprang auf den Bahnsteig. Bald darauf setzte sich die alte Dampflok schnaubend in Richtung Mainz in Bewegung, um dort den Rest ihrer Fracht abzuladen.
    Hier stand er nun in seiner mausgrauen, zerschlissenen Uniform mit ausgelatschten Stiefeln. Die alte Wehrmachtskappe auf seinem nahezu kahl geschorenen Schädel tief ins Gesicht gezogen und dazu mit schlecht rasierten, eingefallenen Wangen. Die langen Kriegsjahre und die anschließende Gefangenschaft hatten ihn an Leib und Seele gezeichnet. Michael ging langsam, fast bedächtig, die alte Treppe hinauf, die von den Gleisen direkt zum Bahnhofsvorplatz führte. Der Anblick, der sich ihm dort bot, war nahezu derselbe wie bei den meisten Stationen, an denen sie Halt gemacht hatten. Frauen, Alte und Kinder wühlten in den Trümmern nach Brauchbarem. Der Geruch von verbrannter Kohle und Holz durchströmte die diesige, kalte Morgenluft. Zu seinem Erstaunen erblickte er in Richtung des Horizonts vereinzelte rauchende Schornsteine und bemerkte bei näherem Hinsehen, dass einige Gebäude vom Bombenhagel verschont geblieben waren .
    » Zum Glück ist doch noch was ganz geblieben«, murmelte er vor sich hin. Er war in Gedanken versunken, als plötzlich ein alter Mann vor ihm stand und ihn unverblümt ansprach: »Guten Morgen Soldat, woher kommst du, äh, besser gesagt wohin gehörst du?« Überrascht blickte Michael ihn mit großen Augen an, da er nicht damit gerechnet hatte, so direkt angequatscht zu werden .
    » Mich brauchten sie bei ihrem Krieg nicht mehr, denn ich habe noch mein Andenken an Verdun«, fuhr der ärmlich gekleidete Unbekannte fort. Der Alte hatte seinen schmutzigen, durchlöcherten Mantel nur lose umhängen, sodass Michael bemerkte, dass seinem Gegenüber der rechte Arm fehlte .
    » So halte ich mich mit etwas Hamstern hier und etwas Tauschen da über Wasser.« Der Hamsterer, wohl froh einen Zuhörer gefunden zu haben, redete nun ununterbrochen auf den Heimkehrer ein. Doch Michael platzte rasch sprichwörtlich der Kragen. Heftig stieß er den Alten zur Seite und ließ ihn wortlos links liegen. Er wollte doch nur, so schnell es ginge, seine Familie wiedersehen und sich nicht das Gelaber irgendeines armen Wichtes anhören. Schnellen Schrittes eilte er zwischen Trümmerbergen und Ruinen hindurch, die lange Bahnhofstraße entlang. Mitten in diesem Chaos drang plötzlich und völlig unerwartet Musik an seine Ohren. Er verlangsamte sein Tempo und blieb stehen. Er kannte den Titel. Oft hatte er das Stück in britischer Gefangenschaft gehört .
    » Mensch Glen, du hast’s auch nicht überlebt«, dachte Michael wehmütig bei sich und setzte seinen Weg weiter fort. Nachdem er nun gut fünfhundert Meter zurückgelegt hatte, bog er in die erste Querstraße nach rechts ab .
    » Hier auf der Ecke stand das letzte Mal als ich hier war noch ein großes Kaufhaus … und jetzt ist nur noch ein riesiger Berg Steine und Schutt davon übrig«, registrierte er kopfschüttelnd im Vorübergehen. Die anderen Passanten hatten anscheinend genug mit sich selbst zu tun, sodass sie ihn nicht weiter beachteten. Michael war froh über diesen Umstand. Denn so konnte er sich zügig, ohne in weitere, unnütze Gespräche verwickelt zu werden, der Hauptstraße
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