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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers
Autoren: Philipp Vandenberg
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Speiseplan standen. Kaltblüter und Kriechtiere galten nicht als Fleisch und fielen deshalb nicht unter das Fastengebot.
    Klösterliches Gebot war es jedoch, jede verteilte Mahlzeit aufzuessen, auch wenn sich der Magen dabei umstülpte. Unter diesem Zwang stand jetzt Magdalena.
    Ihr Zögern war inzwischen auch anderen Mitschwestern aufgefallen. Der Gedanke, Magdalena könnte in der Morgensuppe Gift oder etwas Ekelerregendes entdeckt haben – was bisweilen durchaus vorkam –, ließ sie innehalten und fragend in die Runde blicken. Auf einmal saßen alle regungslos vor ihren Essschalen, und lähmende Stille breitete sich aus.
    Hildegunde, von bäuerischer Herkunft und rüder Sprache, warf ihre Schöpfkelle in den Suppentrog und musterte ihre Mitschwestern von unten mit zusammengekniffenen Augen. Sie war gefürchtet wegen ihrer Unberechenbarkeit. Man wusste nie, woran man mit ihr war, und bisweilen teilte sie mit knöchernem Handrücken Schläge aus.
    Plötzlich gellte ihre brüchige Stimme durch das Refektorium, dass es von den kahlen Wänden hallte:
    »Sündhaftes Gesindel! Schmarotzer im Weinberg des Herrn! Ihr verdient es allesamt, ausgestoßen zu werden aus der klösterlichen Gemeinschaft. Dann könnt ihr euch vom Dreck ernähren, den die Ziegen und Schafe hinterlassen!«
    Kaum hatte die dicke Nonne geendet, da stürzte Clementia, eine Elevin von vierzehn Jahren, vornüber auf den Refektoriumstisch. Aus ihrem Mund schoss ein Strahl Erbrochenes, grau wie dieMorgensuppe, die sie eben zu sich genommen hatte, und bildete eine nierenförmige Lache.
    Eingedenk der mahnenden Worte der Äbtissin, dass nur das Böse unkontrolliert den menschlichen Körper verlasse, stießen die Nonnen gellende Schreie aus. Als sei der Teufel hinter ihnen her, drängten sie zur Türe, rannten, so weit es ihre wallenden Gewänder zuließen, über die enge Steintreppe nach unten – die einen in die Klosterkirche zum Gebet, die anderen zum Kreuzgang ins Freie, um die kalte Morgenluft in sich aufzusaugen.
    Auf diese Weise war Magdalena einem ähnlichen Schicksal wie die Elevin entgangen; denn die flüchtenden Nonnen hatten in Panik ihre Essschalen zurückgelassen – für Magdalena die Gelegenheit, unbemerkt ihre ekelige Morgensuppe in zwei der zurückgelassenen Tonschalen zu verteilen.
    In Gedanken versunken, warum die Äbtissin sie zu sich zitiert hatte, begab sich Magdalena ins Erdgeschoss, wo die Herrin des Klosters gegenüber der Pforte residierte. Seit ihrer Aufnahme in den Orden hatte sie den Raum, dessen Größe und Düsternis ihr in Erinnerung geblieben war, nicht mehr betreten. Dem finsteren, stechenden Blick der verhärmten Frau war sie stets ausgewichen. In Demut hatte sie den Blick gesenkt, wenn sich ihre Wege kreuzten.
    Zaghaft klopfte Magdalena an die schwere Türe aus dunklem Eichenholz und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Im diffusen Licht des frühen Tages, das durch die zum Kreuzgang hin gelegenen Fenster drang, war die Äbtissin kaum zu erkennen. Sie saß vornübergebeugt und starr wie eine Statue hinter einem schmalen, überbreiten, schmucklosen Tisch: die Augen zusammengekniffen, mit schmalen Lippen und die Arme mit gefalteten Händen nach vorne gestreckt.
    »Ihr habt mich rufen lassen, ehrwürdige Mutter«, sagte Magdalena nach einer Weile peinlichen Schweigens.
    Mit einem Kopfnicken löste sich die Äbtissin aus ihrer Starre, und mit einer kurzen Handbewegung wies sie der Nonne einenkantigen Stuhl zu. Magdalena nahm demütig Platz. Sie fühlte Beklommenheit.
    Schließlich erhob sich die Äbtissin, indem sie sich auf ihre Unterarme stützte, und dabei erblickte Magdalena ihr blaues Auge. Sie erschrak. Als die Äbtissin in drohender Haltung um ihren Tisch herumging und hinter Magdalena trat, ahnte sie nichts Gutes. Umso mehr versetzte sie das Folgende in Erstaunen: Magdalena spürte zwei Hände, die ihre Brüste zu kneten begannen. In ihrer Hilflosigkeit, wie sie der Situation begegnen sollte, ließ sie es zunächst geschehen. Doch als ihr Verstand einsetzte, und als die Äbtissin wollüstig zu grunzen begann, rief sie leise:
    »Es ist nicht recht vor Gott dem Herrn!«
    Doch die Alte ließ nicht von ihr ab. Mit gepresster Stimme erwiderte sie:
    »Gott der Herr hat auch dich erschaffen. Es kann kein Unrecht sein, das Werk des Herrn zu berühren.«
    Mit einem Satz sprang Magdalena auf, dass die Äbtissin ins Taumeln geriet und beinahe zu Boden stürzte. Den kurzen Augenblick nutzte sie zur Flucht. Auf der Treppe, die
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