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Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher
Autoren: Roland Adloff
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    Über Nacht hatte es gestürmt in diesem nassen Herbst des Jahres 1699. Manchmal fuhr draußen der Wind durch die Schindeln, hob sie an und ließ sie gegeneinanderschlagen. Von unten aus dem Schankraum klang das Morgenwerkeln. Die Bettstellen wurden zur Seite geräumt, Tische und Stühle für das Morgenbrot aufgestellt. Die Tür schlug einmal. Die Grabich-Wirtin schöpfte draußen das Wasser für den Mokka der Haupträuber.
    Lips lag unter dem Bettstroh, stellte sich, als würde er noch schlafen, und beobachtete die Mutter. Sie saß vor dem Spiegel mit dem prunkenden Goldrand und puderte ihr Gesicht. Zwischendurch betrachtete sie sich prüfend von der Seite. Sie atmete tief ein, machte ein hohles Kreuz und ließ ihren Busen anschwellen. Wie immer, wenn sie den Vater von einer Diebestour zurückerwartete, trug sie ihr gutes Kleid aus rotsamtigem Altartuch mit eingewirkten Silberfäden. Selbst den tiefen Ausschnitt puderte sie ein.
    Die Mutter schien die Zeit zu vergessen und frisierte Strähne für Strähne, sie drehte das Haar um den Finger und türmte es kunstvoll mit langen Nadeln. Sie überlegte lange, bevor sie ein Schönheitspflaster in der Form eines Mundes ausgewählt hatte und an die Wange klebte. Zum Schluss betupfte sie sich mit einem Duftwasser, drehte sich noch einmal vor dem Spiegel, nickte sich zuversichtlich zu, tupfte nochmals nach, dann ging sie hinunter in den Schankraum und irgendwann, wusste Lips, wenn der Branntwein wirkte, würde sie wieder Streit mit der Grabich-Wirtin anfangen.
    Lips wartete, bis ihre Schritte verklungen waren, dann schob er den Türriegel vor und setzte sich vor den Spiegel. Er erschrak jedes Mal, weil ihm sein Gesicht ganz fremd war. War er das? Er drehte den Kopf zur Seite und betrachtete sich. Es kam ihm vor, als wäre er in die Hülle eines anderen gezwängt worden, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Das sollte der Mensch sein, der Arnold verraten hatte?
    Er wich seinem Blick aus und roch an den Wässern und Pudern, horchte zur Tür, stöberte in den Schubladen der Kommode, strich über die Wäschestücke und schnupperte daran, dann legte er die Sachen wieder sorgsam gefaltet zurück. Er besah sich wieder im Spiegel und zog Grimassen, wobei er an der Stirn die ausgezackte Narbe befühlte, die ihm geblieben war, als der Vater mit seinem schweren Gürtel mit der Silberschnalle auf ihn eingedroschen hatte. »Woran du dich immer noch erinnerst!«, sagte die Mutter immer wieder kopfschüttelnd.
    Lips konnte nicht vergessen. Alles blieb in seinem Gedächtnis, ganz gleichgültig, ob er sich erinnern wollte oder nicht. Dinge, die er beiläufig gesehen hatte, gruben sich in seinen Kopf und verfolgten ihn, so sehr er sich manchmal auch wünschte, dass die Erinnerungen verlöschten, ausbrannten, auf irgendeine Art verschwanden, damit sie ihn nicht wieder quälten. Dachte er an etwas, dann sprang eine Bilderflut hervor, als hätte er ein inneres Auge. Die Menschen wurden lebendig; er beobachtete sie scheu, wie sie auf ihn zugingen; er suchte in ihren Gesichtern, ob Gefahr drohte; seine Muskeln spannten sich zum Wegspringen bereit; sie öffneten ihre Münder und sprachen zu ihm, sodass er ihre knappen, befehlenden Worte hören konnte.
    Lips ging ganz nahe an den Spiegel. Er schnitt am Kinn die Barthaare, die ihm seit einiger Zeit aus dem Flaum sprossen, zog die Lippen hoch und strich über die Zähne, deren Reihen dicht wie beim Vater standen. Auch das kräftige, dunkle Haar des Vaters war auf ihn gekommen, dessen braune Augen, die freie Stirn und das energische Kinn. Von der Mutter hatte er nur ein dunkles Mal am Hals. »Teufelskratze«, nannte sie die Mutter und überschminkte sie mit einer Paste. Die Gesichter von anderen waren ihm vertraut, ganz selbstverständlich hatte er sie vor seinem inneren Auge, aber das eigene blieb ihm eigenartig fremd, und wenn er versuchte, sich in Gedanken das eigene Gesicht vorzustellen, dann sah er immer nur den Vater.
    Lips hörte Schritte auf der Treppe und schreckte auf.
    »Sollst zum Frieder runterkommen!«, hörte er die Stimme von Rotkopf. »Mit dem Schreibzeugs!«
    »Mit was für…«, rief Lips, aber schon hörte er, wie Rotkopf die Treppe hinuntersprang.
    Rotkopf musste ihn verraten haben, überlegte Lips fieberhaft. Wer sonst? Vor einigen Tagen waren sie beide nach Stollberg marschiert, und Lips hatte im Kaufmannsladen das Schreibzeug erstanden. Rotkopf hatte große Augen gemacht, als er die Münze sah, die Lips damals von Arnold
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