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434 Tage

434 Tage

Titel: 434 Tage
Autoren: Anne Freytag
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    Für Sandra (trotz allem).
Danke für die Mittagspause.
     
    Imprint
    Titel: 434 Tage
    Autorin: Anne Freytag
    Coverbild: © Michael Tasca
    Copyright: © 2013 Anne Freytag
     
     
Kapitel 1  
    Seine Brust hebt und senkt sich gleichmäßig. Regungslos liegt er neben mir. Die Erinnerung an lautes Atmen und schweißnasse Haut liegt noch in den Kissen und Laken, die kühl meinen Körper bedecken. Gestohlene Stunden in Zimmern ohne Geschichte. Puristische weiße Einrichtung, schwere Vorhänge, Schnittblumen, Beistelltischchen. Ein heimeliges Gefühl in steriler Sauberkeit.
    In einer halben Stunde wird der Wecker klingeln. Er läutet die Realität ein, vor der ich zu fliehen versuche. Doch sie holt mich immer ein. Ich werde aufstehen, duschen und mich anziehen. In sechzig Minuten wird nichts mehr an die vergangene Nacht erinnern. Das Reinigungspersonal wird die Türen aufsperren und die Betten frisch beziehen. Kurz frage ich mich, wie viele Menschen wohl schon in diesem Bett geschlafen haben. Ich frage mich, wie viele Ehemänner und Ehefrauen in diesem Bett hintergangen wurden. Und ich frage mich aus welchen Gründen. Und dann frage ich mich, warum ich es tue.
    Tobias denkt, ich bin geschäftlich unterwegs. Und das bin ich. Aber ich bin in München und nicht in Hamburg. Ich hätte zu Hause schlafen können. Ich hätte bei ihm bleiben können. Aber ich wollte nicht. Und ich kann noch nicht einmal sagen, warum. Tobias hat nichts falsch gemacht. Er ist wie immer. Und er war auch vor einem Jahr nicht anders. Vielleicht ist genau das das Problem. Vielleicht sollte er anders sein.
    Mein Blick fällt wieder auf Julians nackten Oberkörper, der sich noch immer gleichmäßig senkt und hebt. Liebe ich Julian? Und wenn ich es tue, warum verlasse ich Tobias nicht einfach? Wegen der Geschichte, die wir haben? Wegen den zehn Jahren, die wir zusammen sind? Oder bliebe ich bei Tobias, weil ich Julian nicht wirklich traue? Ich betrachte sein Gesicht. Es ist friedlich und entspannt. Bis auf seine Augen. Sie bewegen sich unter seinen Lidern rasch hin und her. So als würde er etwas nachschauen. Ich wüsste gerne, was er gerade sieht.
    Die ersten Sonnenstrahlen zwängen sich durch den kleinen Spalt zwischen den schweren Vorhängen. Tobias liebt es, wenn das Zimmer langsam in Licht gehüllt wird. Früher saßen wir oft im Bett und haben beobachtet, wie die Schatten Muster an die Wände malen. Jetzt tun wir das nicht mehr. Und auch das ist meine Schuld.
    Manchmal wünschte ich, mein Leben hätte ein Drehbuch, in dem ich nachschlagen kann, was als nächstes passiert. Ich hätte gerne eine Orientierung. So eine Art Leitfaden oder wenigstens eine Richtung. Ich drehe mich auf den Rücken und starre an die weiße Decke. Mein Handy vibriert auf dem Nachttisch. Und noch während ich danach greife, weiß ich, dass ich mich gleich elend fühlen werde.
    Ich lese die Nachricht von Tobias und schließe die Augen. Und dann tue ich, was ich nach jeder Nacht mit Julian tue. Ich dusche. Ich wasche die Schuldgefühle ab, mit einem Hotelduschgel aus einer winzigkleinen Plastikflasche. Dieses Mal ist es grün und duftet nach Lemongrass. Ich schrubbe über meine Haut, als wollte ich sie dafür bestrafen, dass sie die letzten Stunden genossen hat. Und vielleicht tue ich das wirklich. Zu Hause wasche ich mich nie so gründlich.
    Normalerweise frühstücken Julian und ich noch zusammen, doch nicht heute. Nachdem ich mich angezogen habe, schaue ich ihn noch ein letztes Mal an, dann schleiche ich zur Tür. Einen winzigen Moment zögere ich. Ich frage mich, ob ich einen Zettel dalassen soll. Doch dann entscheide ich mich dagegen und verlasse die geborgte Geborgenheit und stehe wenig später in einem leeren Flur.
    Ich gehe durch die Maxburgstraße und versuche, mich schuldig zu fühlen. Und ein Teil in mir tut das auch. Der andere tut nur so, weil er weiß, dass es falsch ist, was ich tue. Er weiß, dass Tobias das nicht verdient hat. Kann ich etwas dafür, dass Julian weiß, was ich will und Tobias nicht? Mit Julian fühle ich mich erfüllt. Ist das meine Schuld? Tobias müsste ich sagen, was ich will. Julian weiß es instinktiv. Und trotzdem ist da jedes Mal diese bodenlose Leere, in die ich stürze, wenn ich das Hotelzimmer verlasse. Ich weiß jetzt schon, wie ich mich den ganzen Tag fühlen werde. Und ich weiß, dass Tobias mich heute Abend aufbauen wird, weil er denkt, es liegt an der Arbeit. Er wird mich in die Arme nehmen und mit den Fingerkuppen über
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