Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hercule Poirots Weihnachten

Hercule Poirots Weihnachten

Titel: Hercule Poirots Weihnachten
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
22. Dezember
     
    S tephen schlug den Mantelkragen hoch, während er eilig über den Bahnsteig ging. Dichter Nebel hüllte den Bahnhof ein. Schwere Lokomotiven zischten und stießen Rauchwolken in die raue, kalte Luft. Alles war schmutzig und voll von Ruß.
    «Ein trübsinniges Land», murmelte Stephen angewidert vor sich hin, «und eine trostlose Stadt!»
    Seine erste Begeisterung über London, mit seinen Restaurants, seinen Geschäften und den gut angezogenen, hübschen Frauen, hatte sich gelegt. Nun kam ihm die Stadt nur noch wie ein nassglänzender Rinnstein vor, unansehnlich, schmutzig braun.
    Zu Hause, in Südafrika. Er wurde plötzlich von einem heftigen Heimweh gepackt. Sonnenschein, blauer Himmel, Gärten voller Blumen – blaue Blumen –, Pelargonien, bunte Winden, die sich an jedem noch so ärmlichen Blockhaus rankten…
    Und hier – Schmutz, Ruß und endlose, riesige Menschenmassen, Gedränge, Bewegung, Hektik. Geschäftige Ameisen, die ständig in ihrem Ameisenhaufen herumwimmelten. Sekundenlang dachte er: Wäre ich doch nie hergekommen!
    Dann aber fiel ihm der Grund seines Hierseins wieder ein. Hart pressten sich seine Lippen aufeinander. Nein, zum Teufel, er konnte nicht mehr zurück. Jahrelang hatte er diesen Vorsatz nun ausgebrütet. Was er vorhatte, war seit langem zum Entschluss gereift, und er würde ihn jetzt durchführen.
    Dieses vorübergehende Zögern, diese plötzliche innere Frage: «Wozu? Lohnt es sich überhaupt? Warum die Vergangenheit wieder aufwühlen, warum nicht alles vergeben und vergessen sein lassen?» – Das war Schwäche. Er war doch kein kleiner Junge mehr, den die Stimmung des Augenblicks einmal hierhin und dann wieder dorthin treiben konnte, sondern ein Mann von vierzig Jahren, bewusst und seiner selbst sicher. Er würde den Plan ausführen, um dessentwillen er nach England gekommen war.
    Er stieg in den Zug und suchte einen Platz. Die Gepäckträger hatte er entschieden abgewiesen und trug seinen Koffer selber. Der Zug war sehr voll. Kein Wunder, drei Tage vor Weihnachten. Stephen sah missmutig in die besetzten Abteile.
    Menschen. Unfassbare Massen von Menschen. Und alle sahen so – wie hieß das Wort? – so grau, so verwaschen aus. Sie hatten keine eigenen Gesichter, sondern glichen einer dem anderen, wie Kaninchen oder Schafe. Manche schwatzten und lachten. Andere, dicke Männer mittleren Alters, unterhielten sich knurrend, um nicht zu sagen: grunzend wie Schweine. Und sogar die jungen Mädchen, schlanke Geschöpfe mit ovalen Gesichtern und rot geschminkten Lippen, wirkten entsetzlich gleichförmig.
    Er dachte plötzlich sehnsüchtig an das weite, offene Grasland zu Hause, an die sonnenwarme, einsame Landschaft…
    Doch dann hielt er den Atem an, als er in ein neues Abteil blickte. Dieses Mädchen war anders. Schwarzes Haar, gebräunte, gesunde Haut, Augen, in denen die Tiefe und Dunkelheit der Nacht lag – die schwermütigen, stolzen Augen des Südens. Irgendwie mutete es ganz verkehrt an, dass das Mädchen inmitten dieser grauen Menschen saß und in das nasskalte, graue Mittelengland fuhr. Sie hätte auf einem Balkon sitzen sollen, eine Rose zwischen den Lippen, ein Stück schwarze Spitze um den schönen Kopf geschlungen, und Staub und Hitze hätte sich rings um sie mit Blutgeruch vermischen müssen – die Atmosphäre der Stierkampfarena –, aber in einen englischen Drittklasswagen gehörte sie nie und nimmer.
    Er war ein guter Beobachter. Die Ärmlichkeit ihres dünnen schwarzen Mäntelchens, die billige Qualität der Baumwollhandschuhe und der Schuhe entgingen ihm ebenso wenig wie die schäbige Eleganz der feuerroten Handtasche. Trotzdem empfand er ihre Erscheinung als auffallend schön. Sie war hübsch, zart und exotisch.
    Was um alles in der Welt tat sie in diesem Land der Nebelschwaden, kalten Winde und emsigen Ameisen?
    Ich muss herausbekommen, wer sie ist und was sie hier tut, dächte er. Ich muss es unbedingt wissen.
     
    Pilar saß eng in die Fensterecke gedrückt und dachte, wie eigenartig dieses England doch rieche. Das war ihr bis dahin am meisten aufgefallen an England – dieser merkwürdige Geruch. Es roch nicht nach Knoblauch, auch nicht nach Staub und kaum nach Parfüm. In diesem Eisenbahnwagen zum Beispiel roch es nach abgestandener, kalter Luft – wie in allen Zügen –, und zu dem Geruch nach Seife gesellte sich noch ein anderer, weit unangenehmerer, der offensichtlich aus dem Pelzkragen der dicken Frau neben ihr aufstieg. Pilar schnupperte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher