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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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paar Männer, mehr Frauen. Unterschiedliche Hautfarben. Unterschiedliche Religionen. Die Vereinten Nationen der Verachteten. Der Verachtenswerten. Ich kann ihre Züge nicht genau ausmachen. Ein anonymer Mob.
    Es fällt mir schwer zu atmen. Was ist das für ein Geräusch? Wen starrt ihr alle an?
    Unser Gruppenleiter kommt zu mir. Unser Gruppenleiter verlässt das Zimmer, er kommt mit einer jungen Frau zurück. Sie hat wasserstoffblondes Haar und ist zu stark geschminkt. Sie kommt direkt auf mich zu.
    Dr. White, sagt die Frau. Jennifer. Wir fahren jetzt nach Hause. Kein Geschrei, jetzt. Nein. Bitte, hören Sie auf. Aufhören. Sie tun mir weh. Nein, Sie brauchen nicht anzurufen, ich komme mit der Situation zurecht. Jennifer. Kommen Sie jetzt. Ja, genau. Wir fahren nach Hause. Schsch. Es ist alles gut. Ich bin’s. Sehen Sie mich an. Ich bin Magdalena. Ganz genau. Wir fahren nach Hause.
    A n manchen Tagen sehe ich beglückend klar. Heute ist so ein Tag. Ich gehe durchs Haus und erfreue mich an den Dingen, die mir gehören. Meine Bücher. Mein Klavier, auf dem James immer so rührend unbeholfen gespielt hat. Meine Lithographie von Calder, die James mir 1976 in London gekauft hat, gestochen scharf wie eh und je. Meine Heiligenstatuette aus dem siebzehnten Jahrhundert und meine Votivbilder, zweifellos aus Kirchen gestohlen, Gegenstände, die wir in Jalisco und Monterrey Straßenhändlern abgekauft haben: religiöse Symbole ohne die Last des Glaubens. Ich berühre alles, genieße es zu spüren, wie sich Leder, Mahagoni, Leinen, Porzellan und Zinn anfühlen.
    Magdalena ist verdrießlich, anders kann ich es nicht beschreiben. Sie zerdeppert einen Teller, flucht, fegt die Scherben zusammen, die ihr gleich wieder auf den Boden fallen, während sie versucht, den Deckel des Mülleimers anzuheben. Ihre Arbeit ist bestimmt kein Vergnügen. Aber ich vermute, dass sie das Geld dringend braucht. Ihr Auto ist mindestens zwölf Jahre alt. Die Stoßstangen sind zerbeult, und die Windschutzscheibe hat einen Riss.
    Sie kleidet sich einfach, trägt ausgewaschene Jeans und ein für weiße Männer typisches Button-down-Hemd, das ihr über die breiten Hüften hängt. Sie bleicht ihr dunkles Haar, allerdings nicht besonders gekonnt– man sieht immer die Ansätze. Zu viel Eyeliner und Wimperntusche, was ihre Augen klein wirken lässt.
    Ihr Alter: vielleicht vierzig, fünfundvierzig. Ich sehe, wie sie etwas in mein Notizheft schreibt: Guter Tag für Jennifer. Weniger guter Tag für mich. Ich frage sie warum, und sie zuckt die Achseln. Ihr Gesicht ist verhärmt, und sie hat dunkle Ränder unter den Augen.
    Warum soll ich es Ihnen noch mal erklären?, fragt sie. Sie vergessen es ja sowieso gleich wieder.
    Ich frage mich, ob sie immer so unhöflich ist. Ich frage mich vieles. Wie lange regnet es schon? Wie sind meine Haare nur so lang geworden? Warum klingelt dauernd das Telefon, obwohl mich niemand anruft? Magdalena geht jedes Mal ran, und dann wirkt sie plötzlich ganz geheimnisvoll. Sie flüstert ins Telefon, als würde sie mit einem heimlichen Liebhaber reden.
    I ch stehe mitten auf einer Straße. Auf beiden Seiten türmt sich schmutziger Schnee, aber es ist trotzdem rutschig. Ich muss vorsichtig auftreten. Es entsteht Geschrei. Überall Autos. Ein Hupkonzert. Jemand packt mich am Arm, nicht sanft, zerrt mich schneller vorwärts, als meine Beine sich bewegen können, hebt mich praktisch auf eine Verkehrsinsel. Plötzlich bin ich von Leuten umringt. Von lauter Fremden. Von weither höre ich eine Stimme, eine vertraute Stimme, und die Fremden teilen sich wie das Wasser des Roten Meers. Da kommt sie: leuchtend rotbraunes Haar, zitternd in einem kurzärmeligen T-Shirt, das ihre Klapperschlangentätowierung den Blicken freigibt.
    Warten Sie! Ich bin ihre Tochter! Bitte, rufen Sie nicht die Polizei!
    Dann ist sie da. Atemlos.
    Danke, danke. Wer auch immer sie von der Straße geholt hat, ich danke Ihnen. Sie keucht immer noch. Verzeihen Sie die Unannehmlichkeiten. Meine Mutter leidet an Demenz. Sie hat Mühe zu sprechen, und ihr dünner Körper zittert. Es ist bitterkalt.
    Als die Leute sich entfernen, wendet sie sich mir zu.
    Mom, bitte tu so was nicht! Du hast uns allen einen Schrecken eingejagt.
    Wo bin ich?
    Ungefähr zwei Blocks von zu Hause. Mitten auf einer der verkehrsreichsten Kreuzungen der Stadt.
    Sie holt tief Luft.
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