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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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das?
    Ein dunkelhäutiger Mann in einer blauen Uniform sitzt am Steuer eines weißen Trucks mit einem Adler drauf. Er kurbelt sein Fenster herunter und fährt ganz langsam neben mir her.
    Ja?, sage ich, ohne stehen zu bleiben.
    Kein besonders schöner Tag zum Spazierengehen. Ziemlich ungemütliches Wetter.
    Einfach weitergehen, sage ich mir. Ich schaue ihn nicht an. Wenn man nicht hinsieht, lassen sie einen manchmal in Ruhe. Wenn man nicht hinsieht, geben sie manchmal auf.
    Soll ich Sie mitnehmen? Sie sind ja vollkommen durchnässt. Sie haben nicht mal einen Mantel an. Ach du meine Güte, und auch keine Schuhe. Kommen Sie. Steigen Sie ein.
    Nein. Das Wetter gefällt mir. Ich mag es, den Asphalt unter den nackten Füßen zu spüren. Es fühlt sich kalt an. Es reißt mich aus meinem schläfrigen Zustand.
    Der netten Frau, die bei Ihnen wohnt, wird das aber nicht gefallen.
    Na und?
    Kommen Sie. Er redet beruhigend auf mich ein und hält am Bordstein. Er streckt beide Hände aus, die Handflächen nach oben, und winkt mich zu sich. Behutsam.
    Ich bin doch kein tollwütiger Hund.
    Nein, das sind Sie nicht. Ganz bestimmt nicht. Aber ich kann nicht tatenlos zusehen. Sie wissen doch, dass das nicht geht, Dr. White.
    Ich schiebe mir die nasskalten Haare aus dem Gesicht, ohne stehen zu bleiben, aber er fährt weiter neben mir her. Er nimmt sein Handy aus der Tasche. Wenn er sieben Ziffern eintippt, ist alles in Ordnung. Wenn er drei Ziffern eintippt, gibt es Probleme. Das weiß ich. Ich bleibe stehen und warte. Einszweidrei. Er hört auf. Hält sich das Handy ans Ohr.
    Warten Sie, sage ich. Nein. Ich laufe vorne um den Truck herum. Ich reiße die Tür auf und steige ein. Er soll nicht telefonieren. Damit nichts passiert. Denn sonst passiert etwas Schlimmes. Legen Sie das Handy weg, sage ich. Legen Sie das Handy weg. Er zögert. Ich höre eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Er betrachtet das Handy und klappt es zu. Er schenkt mir ein Lächeln, das mich beruhigen soll. Aber er kann mir nichts vormachen.
    Okay! Ich fahre Sie lieber nach Hause, ehe Sie sich noch den Tod holen.
    Er wartet, bis ich die Haustür erreiche. Sie steht weit offen, und der Wind peitscht den Regen in die Diele. Die schweren Damastvorhänge an den Fenstern sind klatschnass. Ich trete auf einen durchweichten Teppich– es ist ein dunkler Läufer aus Täbris, den wir vor dreißig Jahren in Bagdad gekauft haben und der heute Museumswert hat. James hat ihn letztes Jahr schätzen lassen. Er wird außer sich sein. Magdalenas Schuhe sind weg. Eine Tasse mit lauwarmem Tee steht auf dem Tisch, halb leergetrunken.
    Plötzlich bin ich schrecklich müde. Ich setze mich vor die Teetasse, schiebe sie von mir weg, aber der Kamillenduft steigt mir trotzdem in die Nase. So viele Altweiberweisheiten über Kamille haben sich als wahr erwiesen. Kamille hilft bei Verstopfung, Fieber, Menstruationsschmerzen, Bauchweh, Hautentzündungen und Angstzuständen. Und natürlich bei Schlaflosigkeit.
    Kamille hilft gegen alles!, hat Magdalena ausgerufen, als ich das erzählt habe. Nein, habe ich geantwortet, nicht gegen alles.
    W ir hören uns die Matthäuspassion an. Es ist das Jahr 1988. Solti dirigiert in der Orchestra Hall, und das Publikum lauscht ergriffen, bis die Kadenzen zerfließen. Die verminderten Sept-Akkorde und die verstörenden Modulationen. Die Spannung ist kaum zu ertragen. Ich spüre die Wärme von James’ Fingern in meiner Hand, seinen warmen Atem an meiner Wange.
    Dann plötzlich ein kalter Wintertag. Ich bin allein in meiner Küche. Ich verschränke die Arme auf dem Tisch und lege die Stirn darauf. Habe ich heute Morgen meine Tabletten genommen? Wie viele habe ich geschluckt? Wie viele würden ausreichen?
    Ich stehe kurz davor. Ich habe den Punkt fast erreicht. Ich höre ein Echo von Bach: Ich bin’s, ich sollte büßen. Ich bin diejenige, die leiden und sich auf die Hölle vorbereiten sollte.
    Aber noch nicht. Nein. Noch nicht. Ich bleibe sitzen und warte.
    E in Mann ist ohne anzuklopfen in mein Haus gekommen. Er sagt, er sei mein Sohn. Magdalena bestätigt das, also akzeptiere ich es. Aber das Gesicht des Mannes gefällt mir nicht. Ich schließe nicht aus, dass sie mir die Wahrheit sagen– gehe allerdings lieber auf Nummer sicher. Ich lasse mich auf nichts ein.
    Was ich sehe: einen Fremden, einen sehr gut aussehenden Fremden.
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