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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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paar Fragen stellen, sagt er. Antworte einfach, so gut du kannst.
    Ich reagiere nicht einmal.
    Welcher Tag ist heute?
    Arztgehtag.
    Schlaue Antwort. Welchen Monat haben wir?
    Winter.
    Geht es ein bisschen genauer?
    März?
    Fast. Ende Februar.
    Was ist das?
    Ein Bleistift.
    Was ist das?
    Eine Armbanduhr.
    Wie heißt du?
    Beleidige mich nicht.
    Wie heißen deine Kinder?
    Fiona und Mark.
    Wie hieß dein Mann?
    James.
    Wo ist dein Mann?
    Er ist tot. Herzinfarkt.
    Kannst du dich genauer erinnern?
    Er saß am Steuer und hat die Kontrolle über seinen Wagen verloren.
    Ist er an dem Herzinfarkt gestorben oder an den Folgen des Unfalls?
    Das konnte nicht genau festgestellt werden. Er kann an einer Kardiomyopathie gestorben sein, die verursacht wurde durch eine Mitralklappeninsuffizienz, oder an einem Schädel-Hirn-Trauma. Der Pathologe hat Herzstillstand diagnostiziert. Ich selbst hätte allerdings etwas anderes behauptet.
    Du warst bestimmt am Boden zerstört.
    Nein, ich habe gedacht: Typisch James, bis zum Schluss in einen Kampf zwischen Kopf und Herz verstrickt.
    Du spielst die Sache herunter. Aber ich erinnere mich daran, was du damals durchgemacht hast.
    Du brauchst mich nicht zu schonen. Ich musste damals allen Ernstes lachen. Sein Herz hat als Erstes aufgegeben. Sein Herz! Ich habe tatsächlich gelacht. Ich habe gelacht, als ich seine Leiche identifizieren musste. Was für ein kalter, heller Raum. Das Leichenschauhaus. Ich hatte seit dem Medizinstudium keins mehr betreten, und ich konnte diese Orte damals schon nicht ausstehen. Dieses grelle, harte Licht. Die Eiseskälte. Die Gummisohlen, die beim Gehen auf dem gefliesten Boden quietschten wie hungrige Ratten. Daran erinnere ich mich: an James in dem gnadenlosen Licht und an das krabbelnde Ungeziefer.
    Jetzt willst du mir etwas vormachen. Als würde ich so etwas nicht durchschauen.
    Der Arzt trägt etwas in eine Tabelle ein. Er gestattet sich ein Lächeln in meine Richtung.
    Neunzehn Punkte, sagt er. Heute bist du gut. Du regst dich nicht auf, und Magdalena sagt, du bist neuerdings weniger aggressiv. Wir werden also die Medikation beibehalten.
    Er schaut mich an. Hast du damit ein Problem?
    Ich schüttle den Kopf. Also gut. Wir tun, was wir können, um dafür zu sorgen, dass du in deinem Haus bleiben kannst. Ich weiß, dass du das möchtest.
    Er lässt einen Augenblick verstreichen. Ich muss dir mitteilen, dass Mark mich drängt, ein Gutachten zu verfassen, mit dem er dich für unfähig erklären kann, medizinische Entscheidungen zu treffen, sagt er dann. Ich habe mich geweigert. Er beugt sich vor. Ich rate dir, dich nicht von einem weiteren Arzt untersuchen zu lassen. Nicht ohne richterlichen Beschluss.
    Er zieht ein Blatt aus seiner Akte. Hier … ich habe es alles für dich aufgeschrieben. Alles, was ich dir gerade erklärt habe. Ich gebe es Magdalena und bitte sie, es an einem sicheren Ort aufzubewahren. Ich habe zwei Kopien davon angefertigt. Eine davon wird Magdalena deinem Anwalt übergeben. Ich glaube, du kannst Magdalena vertrauen. Ich halte sie für vertrauenswürdig.
    Er wartet auf eine Antwort von mir, aber ich kann mich nicht von dem Foto mit der nackten Frau losreißen. In ihren Augen liegen Zweifel und Argwohn. Sie schaut in die Kamera. Durch die Kamera hindurch. Sie schaut mich an.
    I ch kann die Autoschlüssel nicht finden, also beschließe ich, zu Fuß zum Drugstore zu gehen. Ich will Zahnpasta, Zahnseide und Shampoo für trockenes Haar kaufen. Vielleicht auch noch Toilettenpapier, das beste.
    Normale Dinge. Ich bemühe mich so zu tun, als sei auch ich heute normal. Nach dem Drugstore werde ich zum Supermarkt gehen und fürs Abendessen das dickste Brathähnchen aussuchen. Und ein frisches Brot kaufen. James wird sich freuen. Kleine Annehmlichkeiten– die lieben wir beide.
    Aber ich muss mich beeilen. Und leise sein. Sie werden versuchen, mich aufzuhalten. Das tun sie immer.
    Keine Handtasche. Wo ist sie? Ich stelle sie immer neben der Tür ab. Egal, es wird bestimmt jemand Nettes da sein. Ich sage einfach, ich bin Dr. Jennifer White, und ich habe meine Handtasche vergessen, und dann sagt die Person, ah, kein Problem, hier haben Sie etwas Geld, und ich nicke und bedanke mich.
    Ich gehe die Straße hinunter, vorbei an efeubewachsenen Backsteinhäusern mit hüfthohen schmiedeeisernen Zäunen um kleine, ordentlich gepflegte Vorgärten.
    Dr. White? Sind Sie
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