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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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schreibt etwas in mein Notizheft. Sie unterschreibt mit Magdalena. Heute, Freitag, 11. März, war wieder ein schlimmer Tag. Sie sind gegen die Stufe gestoßen und haben sich den Zeh gebrochen. Aus der Notaufnahme sind Sie auf den Parkplatz geflüchtet. Ein Pfleger hat Sie zurückgeholt. Sie haben ihn angespuckt.
    Die Schmach.
    D ieser Dämmerzustand. Ein Leben im Schatten. Während die Neurofibrillen wuchern, während die Nervenplaques verhärten, während die Synapsen ihre Arbeit einstellen und mein Gehirn verrottet, bin ich bei vollem Bewusstsein. Eine Patientin ohne Narkose.
    Jede Zelle, die stirbt, trifft mich dort, wo ich am empfindlichsten bin. Und Leute, die ich nicht kenne, behandeln mich von oben herab. Sie umarmen mich. Sie versuchen, mir die Hand zu halten. Sie geben mir kindische Spitznamen: Jen. Jenny. Widerstrebend akzeptiere ich es, dass ich unter Fremden berühmt, ja sogar beliebt bin. Eine Berühmtheit!
    Eine im eigenen Kopf gefangene Legende.
    N euerdings ist mein Notizbuch voller Warnungen. Mark total sauer heute. Hat einfach aufgelegt. Magdalena sagt, ich soll nicht ans Telefon gehen. Ich soll nicht die Haustür aufmachen, wenn sie gerade Wäsche wäscht oder auf der Toilette ist.
    Dann, in einer anderen Schrift: Mom, bei Mark bist du nicht in guten Händen. Stell mir, Fiona, eine Vorsorgevollmacht aus. Es ist sowieso besser, wenn sich die medizinischen und die finanziellen Angelegenheiten in einer Hand befinden. Jemand hat ein paar Wörter durchgestrichen, nein, mit einem dicken, schwarzen Stift unkenntlich gemacht. Wer?
    W ieder mein Notizheft:
    Mark hat angerufen, er meint, mein Geld wird mich nicht retten. Ich soll auf ihn hören. Er meint, wir müssen andere Maßnahmen zu meinem Schutz ergreifen.
    Dann: Mom, ich habe für den Vorschuss an die Anwältin IBM -Aktien im Wert von 50 000 Dollar verkauft. Die Frau hat sich mit Fällen, in denen der Geisteszustand ihrer Mandanten eine Schlüsselrolle spielte, einen Namen gemacht. Sie haben keine Beweise, nur Theorien. Dr. Tsien hat dir 150 mg Seroquel verordnet, um die Anfälle in den Griff zu kriegen. Ich komme morgen, Samstag, wieder vorbei. Deine Tochter Fiona.
    I ch gehöre einer Alzheimer-Selbsthilfegruppe an. Leute kommen und bleiben wieder weg.
    Magdalena meint, heute Morgen geht es mir ganz gut, wir können hingehen. Die Gruppe trifft sich in der Methodistenkirche in der Clark Street, einem gedrungenen, grauen Gebäude mit Schindelverkleidung und knallbunten Bleiglasfenstern.
    Wir versammeln uns in der Fellowship Lounge, einem großen Raum mit Fenstern, die sich nicht öffnen lassen, und einem gesprenkelten Linoleumboden, auf dem die metallenen Klappstühle Schrammen hinterlassen haben. Wir sind vielleicht ein halbes Dutzend, ein wild zusammengewürfelter Haufen von Leuten mit unterschiedlich stark lädiertem Gehirn. Magdalena wartet zusammen mit den anderen Pflegern und Pflegerinnen draußen. Sie sitzen auf langen Bänken im dunklen Flur, stricken und unterhalten sich leise, stets wachsam und bereit, beim ersten Anzeichen von Ärger aufzuspringen und ihren Schützling wegzubringen.
    Unser Gruppenleiter ist ein junger Sozialarbeiter. Er hat ein freundliches, unauffälliges Gesicht, und er eröffnet die Treffen immer mit einem Scherz: Mein Name ist Weiß-ich-nicht, und ich bin ein Hab-ich-vergessen. Was wir machen, nennt er das Zwei-Kreisschritte-Programm. Schritt eins lautet: Wir akzeptieren, dass wir ein Problem haben. Schritt zwei lautet: Wir vergessen, dass wir ein Problem haben.
    Jedes Mal erntet er ein paar Lacher– von einigen, weil sie sich vom letzten Mal an den Witz erinnern, aber von den meisten, weil ihnen der Witz neu ist, egal, wie oft sie ihn schon gehört haben.
    Heute habe ich einen guten Tag. Ich erinnere mich. Ich würde dem Programm noch einen dritten Schritt hinzufügen, und der lautet: Wir erinnern uns, dass wir vergessen. Schritt drei ist der schwerste.
    Heute diskutieren wir über die richtige Einstellung. So nennt unser Gruppenleiter das. Sie alle haben eine äußerst betrübliche Diagnose erhalten, sagt er. Sie alle sind intelligente, gebildete Menschen. Sie wissen, dass Ihnen die Zeit davonläuft. Was Sie mit dieser Ihnen verbleibenden Zeit anfangen, ist Ihre Sache. Denken Sie positiv! Alzheimer zu haben kann so ähnlich sein, wie auf eine Party zu gehen, wo man niemanden kennt. Stellen Sie sich das mal vor! Jede
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