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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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und legte eine Hand um die Blüte, ganz vorsichtig, um sie nicht zu beschädigen. Eine der wenigen Pflanzen, die kein Licht brauchen. Sie wächst tatsächlich im Dunkeln.
    Wie ist das möglich?, fragte ich.
    Die Pflanze ist ein Parasit – sie kommt ohne Photosynthese aus. Sie ernährt sich von den Pilzen und Bäumen, auf denen sie wächst, und lässt andere die Arbeit für sich machen. Ich hatte schon immer das Gefühl, mit dieser Pflanze verwandt zu sein. Ich bewundere sie. Denn was sie macht, ist nicht leicht – deswegen gibt es auch nicht viele davon. Erst mal muss die Pflanze natürlich den passenden Wirt finden, genau die richtigen Bedingungen, damit sie gedeihen kann. Aber wenn die Bedingungen stimmen und sie eine Blüte treibt, ist sie wahrhaft spektakulär. Er ließ die Blüte los und stand auf.
    Ja, sagte ich, das sehe ich.
    Wirklich?, fragte er. Siehst du das wirklich?
    Ja, wiederholte ich, und das Wort hing in der schwülen Luft wie ein Versprechen. Wie ein Gelübde.
    Kurze Zeit später heirateten wir in aller Stille im Rathaus von Evanston. Wir hatten niemanden eingeladen, Gäste hätten uns nur in unserer Privatsphäre gestört. Die Sekretärin stellte sich als Trauzeugin zur Verfügung, und das Ganze dauerte nur fünf Minuten. Es war eine gute Entscheidung. Aber an Tagen wie heute, wenn ich James so schmerzlich vermisse, sehne ich mich nach dem Tag im Wald, der mir so intensiv im Gedächtnis haften geblieben ist, als wäre es gestern gewesen. Wie gerne würde ich diese Blume pflücken und sie James überreichen, wenn er zurückkommt. Ein schauriges Liebespfand.
    I ch sitze im Sprechzimmer eines gewissen Carl Tsien. Der Mann ist Arzt. Mein Arzt, wie es scheint. Ein schmächtiger Mann mit Halbglatze. Auf eine Weise blass, wie es nur jemand sein kann, der sein Leben in geschlossenen Räumen bei künstlichem Licht verbringt. Ein gütiges Gesicht. Offenbar kennen wir einander gut.
    Er spricht über ehemalige Studenten. Er benutzt das Wort unsere. Unsere Studenten. Er sagt, dass ich allen Grund hätte, stolz zu sein. Dass ich der Universität und der Klinik ein unschätzbar wertvolles Vermächtnis hinterlassen hätte. Ich schüttle den Kopf. Ich habe schlecht geschlafen und bin zu müde, um das Spiel mitzumachen. Ich bin die ganze Nacht durchs Haus gegeistert. Auf und ab gegangen, hin und her, vom Schlafzimmer ins Bad und vom Bad ins Schlafzimmer. Habe meine Schritte gezählt, dem Rhythmus meiner Schritte auf den Fliesen und dem Parkettboden gelauscht. Bis mir die Fußsohlen wehtaten.
    Aber dieses Sprechzimmer weckt Erinnerungen. Zwar kenne ich diesen Arzt nicht, doch die Sachen, die in seinem Zimmer stehen, sind mir vertraut. Das Modell eines menschlichen Schädels auf dem Schreibtisch. Jemand hat die Kieferknochen mit Lippenstift bemalt, um Lippen anzudeuten, und auf einem handgeschriebenen Schild, das darunter klebt, steht: DIE VERRÜCKTE CARLOTTA . Ich kenne den Schädel. Ich kenne die Handschrift. Er sieht, dass ich das Schild betrachte. Du hast schon immer einen etwas merkwürdigen Humor gehabt, sagt er.
    An der Wand hinter dem Schreibtisch hängt ein altes Poster mit einem Bild von einem Ski-Gebiet, darunter in leuchtendroten Lettern das Wort Chamonix. Und darunter, etwas kleiner: Des conditions de neige excellentes, des terrasses ensoleillées, des hors-pistes mythiques. Auf dem Foto sind ein Mann und eine Frau in der unförmigen Ski-Kleidung zu sehen, die man Anfang des 20. Jahrhunderts trug. Sie fahren auf ihren Skiern einen steilen, mit einzelnen Fichten bestandenen Hang hinunter. Es ist eine kunstvolle Zeichnung, kein Foto. Aber rechts und links von dem Poster hängen verschiedene Fotos. Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Rechts ein Foto von einem schmuddeligen kleinen Mädchen, das vor einer baufälligen Hütte hockt. Links eins von einem kahlen Feld, dicht über dem Horizont die Sonne. Auf dem Feld eine nackte Frau. Sie liegt auf dem Bauch und stützt das Kinn in die Hände. Sie schaut direkt in die Kamera. Das Bild widert mich an, und ich wende mich ab.
    Der Arzt lacht und tätschelt mir den Arm. Mein künstlerischer Stil hat dir noch nie gefallen, sagt er. Manieriert hast du ihn genannt. Ansel Adams meets Discovery Channel. Ich zucke die Achseln. Ich lasse es zu, dass seine Hand auf meinem Arm liegen bleibt, während er mich zu einem Stuhl führt.
    Ich werde dir ein
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