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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen
Autoren: Alice LaPlante
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was heute passiert ist. Schreiben Sie über Ihre Kindheit. Schreiben Sie alles auf, woran Sie sich erinnern.
    Ich erinnere mich an meine erste Handgelenks-Arthrodese. Der Druck des Skalpells auf der Haut, der fehlende Widerstand, sobald der Schnitt gemacht ist. Die Elastizität des Muskelgewebes. Das Geräusch meiner Chirurgenschere, als sie auf Knochen stößt. Ich erinnere mich, wie ich hinterher blutige Handschuhe Finger für Finger abstreife.
    S chwarz. Alle tragen Schwarz. Sie gehen zu zweit und zu dritt die Straße hinunter in Richtung der Kirche St. Vincent’s, in Mäntel und Schals gehüllt, die ihre Köpfe und teilweise ihre Gesichter gegen den offenbar bitterkalten Wind schützen.
    Ich bin in meinem warmen Haus, schaue aus dem von Eisblumen eingerahmten Fenster, hinter mir Magdalena. Ich kann die dreieinhalb Meter hohe, doppelflügelige Holztür so gerade ausmachen. Sie steht weit offen, und die Leute gehen hinein. Vor der Kirche steht ein Leichenwagen, dahinter noch mehr Autos. Sie haben die Scheinwerfer eingeschaltet.
    Es ist Amanda, sagt mir Magdalena. Sie wird heute beerdigt. Wer ist Amanda?, frage ich. Magdalena zögert kurz, dann sagt sie: Ihre beste Freundin. Die Patentante Ihrer Tochter.
    Ich versuche es. Vergeblich. Ich schüttle den Kopf. Magdalena holt mein Notizheft. Sie schlägt es auf und blättert zurück. Zeigt auf einen Zeitungsausschnitt:
    Ã„ltere Frau tot und verstümmelt aufgefunden
    CHICAGO TRIBUNE , 23. Februar 2009
    CHICAGO , Illinois. Eine verstümmelte Frauenleiche ist gestern in einem Haus in der Sheffield Avenue aufgefunden worden.
    Bei dem Opfer handelt es sich um die 75-jährige Amanda O’Toole. Einer Nachbarin war zuvor aufgefallen, dass Mrs O’Toole seit fast einer Woche ihre Zeitung nicht hereingeholt hatte. Polizeiangaben zufolge waren dem Opfer vier Finger der rechten Hand abgehackt worden. Als Todesursache wurde ein Schädelhirntrauma festgestellt. Der genaue Todeszeitpunkt steht bislang noch nicht fest.
    Offenbar wurde nichts aus der Wohnung der Toten entwendet.
    Bisher gibt es keinen Tatverdächtigen. Die Polizei hat eine verdächtige Person festgenommen, sie aber kurz darauf wieder freigelassen.
    Ich versuche es. Aber ich kann mich an nichts erinnern. Magdalena geht. Sie kommt mit einem Foto zurück.
    Zwei Frauen, eine ist mindestens einen halben Kopf größer als die andere und trägt ihr langes, weißes Haar zu einem strengen Knoten gebunden. Die Kleinere ist jünger. Ihre grauen Locken rahmen ein feingeschnittenes, sehr feminines Gesicht ein. Sie ist vielleicht früher mal eine Schönheit gewesen.
    Das sind Sie, sagt Magdalena und zeigt auf die jüngere Frau. Und das da, das ist Amanda. Ich betrachte das Foto aufmerksam.
    Die größere Frau hat ein faszinierendes Gesicht. Nicht unbedingt hübsch. Auch nicht ansprechend. Dafür sind die Konturen zu hart, die Falten um die Mundwinkel zu tief, sie wirken leicht verächtlich. Die beiden Frauen stehen dicht nebeneinander. Sie berühren sich nicht, aber man erkennt eine Verbundenheit.
    Versuchen Sie, sich zu erinnern, drängt Magdalena mich. Es könnte wichtig sein. Ihre Hand liegt schwer auf meiner Schulter. Sie will etwas von mir. Was? Aber ganz plötzlich bin ich müde. Meine Hände zittern. Schweißtropfen laufen zwischen meinen Brüsten herunter.
    Ich möchte in mein Zimmer, sage ich. Ich schlage nach Magdalenas Hand. Lass mich in Frieden.
    A manda? Tot? Ich kann es nicht glauben. Meine liebe, gute Freundin. Meinen Kindern wie eine zweite Mutter. Meine Verbündete im Viertel. Meine Schwester.
    Wenn es Amanda nicht gäbe, wäre ich ganz allein. Ich war anders. Immer im Abseits. Eine Außenseiterin.
    Nicht dass irgendjemand davon gewusst hätte. Sie haben sich von Äußerlichkeiten blenden lassen, es war so einfach. Niemand erkannte Schwäche so gut wie Amanda. Sie sah mich und errettete mich aus meiner geheimen Einsamkeit. Und wo war ich, als sie mich brauchte? Hier. Drei Türen weiter. Suhlte mich in meinem Kummer. Während sie litt. Während ein Monster ein Messer zückte und sie tötete.
    Gott, die Schmerzen! Was muss sie für Schmerzen gelitten haben! Ich werde aufhören, meine Tabletten zu nehmen. Ich werde mein Skalpell nehmen und ihr Bild aus meinem Gehirn schneiden. Und werde um das betteln, wogegen ich all die Monate ankämpfe: süßes Vergessen.
    D ie nette Frau
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