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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut
Autoren: Torkil Damhaug
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    September 1996
    M ittlere Gefahrenstufe. Die gelbe Flagge ist gehisst. Die Brandung schlägt hoch an den Strand, obwohl es erst zwölf ist. Er wirft das Handtuch in den Sand und läuft ins Wasser, behält das gelbe T-Shirt an. Das Wasser reicht ihm bis zum Nabel. Er macht ein paar Schwimmzüge, wirft sich in die sich brechenden Wellen, krault zu den Bojen und zieht an ihnen vorbei. Er spürt ein unheilvolles Kribbeln und Brausen in der Brust, doch selbst wenn sie die rote Flagge gehisst hätten, wäre er ins Wasser gegangen. Rote Flagge bedeutet höchste Gefahr.
    Niemand schwimmt heute so weit hinaus wie er. Er dreht sich zum Strand um. Wie ihm aufgetragen worden ist, hält Truls Nini an der Hand. Hier, jenseits der Bojen, kann er gerade noch hören, wie sie jedes Mal quiekt, wenn die Ausläufer einer Welle über ihre Füße schwappen.
    Weiter draußen werden die Wellentäler tiefer. Plötzlich öffnen sie sich, und er fällt nach unten, wird emporgehoben und stürzt über den nächsten Wellenkamm wieder hinab. Er muss sich anstrengen, um sich an der Oberfläche zu halten und nicht nach unten gezogen zu werden. Er prustet und schnaubt, wird hinaufgetragen und nach unten gedrückt. Die Wellen folgen dicht aufeinander, und wenn er sich auf der Krone befindet, kann er die Linie am Horizont erkennen, an der sich Himmel und graublaues Wasser berühren. Er weiß, dass sich das Wasser hinter dieser Linie bis nach Afrika erstreckt. Wie weit würde er kommen, wenn er auf diese unsichtbare Küste zuschwimmen würde? Jede Welle, die ihn hinabzieht und emporträgt, beantwortet er mit einer Bewegung seines Oberkörpers, die ihm das Gefühl gibt, der Stärkere zu sein. Wie lange wird er durchhalten, ehe er aufgeben und sich dem Willen der Wellen beugen muss?
    Nicht einmal heute Vormittag, als sie bei bestem Wetter zur Landung ansetzten, hatte er das Land auf der anderen Seite erkennen können. Er hatte sich zu seiner Mutter umgedreht, die in der Mitte saß, um sie zu fragen, wie viele Kilometer ihrer Meinung nach zwischen den beiden Küsten lagen. Doch er sah ihren Augen an, dass sie nicht mehr in der Lage war, solche Fragen zu beantworten. Hatte es bereits am frühen Morgen gemerkt, bevor sie das Flugzeug bestiegen. Direkt neben Gate 1 hatten sie im Café gesessen. Um drei Uhr nachts waren sie aufgestanden, um rechtzeitig am Flughafen zu sein. Nini lag in ihrem Buggy und schlief. Truls hatte sich auf seinem Stuhl zusammengerollt und war ebenfalls eingeschlafen. Er selbst starrte auf das Rollfeld.
    »Willst du was zu trinken, Jo?«, fragte Arne und zwinkerte ihm kumpelhaft zu, was bedeutete, dass Jo eine Cola haben konnte. Er wusste, dass hinter dieser Frage etwas anderes steckte. Und richtig: Kurz darauf kam Arne mit einer Cola, Kartoffelchips und einem Stück Kuchen zurück. Auch gut. Dass er sich selbst ein Bier gekauft hatte, war Jo egal. Arne konnte trinken, was er wollte. Aber der Mutter Rotwein mitzubringen war definitiv eine schlechte Idee. Es ist Viertel vor sechs am Morgen, und deine Mutter trinkt Wein. Kein normaler Erwachsener tut das. Sie hatte seit Tagen keinen Tropfen mehr angerührt, und Jo hatte gedacht, dass sie es auf dieser Reise – mit Sonne, Strand und all dem, wonach sie sich immer gesehnt hatte – vielleicht nicht nötig haben würde zu trinken. Doch noch bevor sie an Bord gingen, hatte sie drei Gläser geleert. Sie wollte Jo gar nicht mehr loslassen, fuhr ihm ständig durch die Haare und sagte nicht mehr »Flugzeug«, sondern »Flugseuch«, und auf einmal waren sogar Arnes Witze so wahnsinnig komisch, dass sie den Kopf zurückwarf und hickste.
    Als sie dann im »Flugseuch« saßen und die Flugbegleiterinnen mit ihren blau-weißen Uniformen ihre Servierwagen hinter sich herzogen, bestellte Arne einen Cognac für sie, obwohl er wusste, wie das enden würde. Vielleicht tat er es deshalb. Jo lehnte sich gegen die Scheibe und tat so, als schliefe er. Er hätte am liebsten einen Fallschirm gehabt und den Notausgang geöffnet, um über Deutschland oder Polen oder wo auch immer abzuspringen und in einem fremden Land zu landen, wo ihn niemand kannte und niemand etwas von Mutter oder Arne, dem Wichser, wusste.
    Ein paar Stunden später lagen sie mit einem Drink in ihren Liegestühlen am Pool, und seine Mutter ließ ihr Glas fallen, das auf den Steinfliesen zersprang. Da hielt es Jo nicht länger aus, stand auf und lief zum Strand hinunter.
    »Nimm Truls und Nini
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