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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut
Autoren: Torkil Damhaug
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Mutter Zigaretten klauen. Auf dem Nachttisch liegen die zwei Stangen Zigaretten, die sie sich vor dem Abflug im Tax-Free-Shop gekauft hat. Sie wird nicht merken, wenn eine Schachtel fehlt. Er könnte das Nachbarmädchen fragen, ob sie eine haben will.
    Auf der anderen Seite schlägt eine Tür. Er hastet durchs Zimmer, öffnet die Wohnungstür und streckt den Kopf hinaus.
    Da
ist
sie, auf dem Weg zum Pool. Sie trägt einen kurzen Rock und ein Top. Wäre er nur ein bisschen schneller gewesen …
    Der Speisesaal ist brechend voll. Er muss lange suchen, ehe er den Tisch findet. Sie sitzen nahe der Bühne. Auf dem Tisch eine Flasche Rotwein, halb voll. Arne trinkt Bier, also hat seine Mutter die halbe Flasche auf dem Gewissen. Obwohl er nur ihren Rücken sieht, erkennt er, dass sie schon beschwipst ist. Ihr Kopf hängt ein wenig schräg und neigt sich immer mehr zur Seite, je mehr sie trinkt. Nini ist auf ihrem Kinderstuhl eingeschlafen, und Truls kaut an einem Würstchen. Sein Gesicht leuchtet auf, als er seinen großen Bruder sieht. In diesem Augenblick erblickt Jo zwei Tische weiter das Mädchen aus der Nachbarwohnung. So wie sich seine Mutter und Arne benehmen, möchte Jo nicht zusammen mit ihnen gesehen werden und bleibt ein paar Meter von ihnen entfernt stehen. Glücklicherweise hat ihn das Mädchen noch nicht bemerkt.
    »Willsu dir nichs nehmen?«, fragt die Mutter, sie ist schon betrunkener, als er gedacht hat.
    »Bin nicht hungrig. Hab vorhin ein Würstchen gegessen.«
    Was der Wahrheit entspricht. Außer das mit dem Würstchen. Sein Bauch, der Kopf, der ganze Körper schmerzen immer noch, als sei er halb bis nach Afrika getaucht.
    »So ein Unsinn«, sagt Arne.
    »Lassin doch selbs bestimmen«, verteidigt ihn die Mutter, als ob das helfen würde.
    »Ich treff mich mit ein paar Freunden.«
    »Okay«, sagt die Mutter und winkt.
    »Du kommst aber bald wieder und nimmst Truls und Nini mit!«, sagt Arne in einem Befehlston.
    Die Mutter bemüht sich um ein Lächeln.
    »Pass einfach ’n bisschen auf sie auf, damit Arne un ich mal freihaben. Is doch schließlich unser Urlaub.«
    »Frei, um sich volllaufen zu lassen«, murmelt Jo.
    »Hast du was gesagt?«, knurrt Arne.
    Jo blickt verstohlen zum Tisch mit dem Mädchen hinüber. Die stämmige Blonde sitzt auch mit am Tisch, zusammen mit zwei Erwachsenen. Sie sind mit ihrem Essen beschäftigt. Im Saal ist es viel zu warm. Jo hat die Wärme noch nie gemocht. Er spürt, dass irgendwas in der Luft liegt. Schließt er die Augen, wird es stockdunkel. Wenn er sie wieder öffnet, tauchen Schatten auf. Sie tragen etwas, das wie ein Vorschlaghammer aussieht … Er dreht sich um und geht, ehe andere dies bemerken.
     
    »Hey, Joe.«
    Jo bleibt am Beckenrand stehen und sieht sich um. In einem der Liegestühle an der Mauer entdeckt er den Mann, mit dem er gestern Abend gesprochen hat. Er, der wollte, dass Jo ihn Jakka nennt. Auf dem Tisch neben ihm brennt eine Kerze. Er liest ein Buch.
    »Hei«, sagt Jo und spürt, dass sein Atem hier draußen in der Dunkelheit zur Ruhe kommt.
    »Busy?«, fragt der Mann, der offenbar auch heute mit ihm reden will.
    Jo macht ein paar Schritte auf ihn zu. Jakka trägt immer noch eine kurze Hose und ein schwarzes kurzärmliges Hemd.
    »Und, hat sich alles geregelt? Ich meine, mit deiner Mutter und so?«
    Jo antwortet nicht.
    »Willst du dich für ein paar Minuten zu mir setzen?« Jakka macht eine einladende Geste in Richtung Nachbarliege. Jo setzt sich auf die Kante.
    »Was liest du da?«, fragt er, um irgendwas zu sagen.
    Jakka hält ein dünnes Buch hoch.
    »Ein langes Gedicht.«
    »Ein Gedicht?«
    »Eigentlich ist es eine Geschichte. Eine Wanderung durch eine tote Welt. Oder eine Welt von Toten.«
    »Eine Spukgeschichte«?
    »Ganz genau!«, sagt Jakka. »Hab sie schon oft gelesen. Trotzdem verstehe ich sie immer noch nicht richtig.«
    Jo fragt sich, was er damit meint.
    »Der Teil, den ich gerade lese, heißt ›Death by water‹.«
    »Handelt die vom Ertrinken?«, fragt Jo vorsichtig.
    »Ja, ein junger Mann, ein Phönizier.«
    »Phönizier?«, unterbricht ihn Jo. »Meinst du die Leute, die vor mehreren tausend Jahren in dieser Gegend lebten?«
    Jakkas Augenbrauen ziehen sich nach oben und bilden zwei hohe Bögen.
    »Respekt, Jo, du scheinst ja gut aufzupassen in der Schule.«
    Das tut er, wenngleich sich sein Ehrgeiz in Grenzen hält.
    »Dieser Phönizier ertrinkt also«, stellt Jo fest und gibt seiner Stimme einen gleichgültigen Klang.
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