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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen
Autoren: Mats Wahl
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    Am gegenüberliegenden Seeufer verkehren die Pendelzüge nach Stockholm. Wenn der Wind von drüben kommt, kann man sie hören. In der hohen Hecke ist eine kleine Pforte, die fast völlig überwuchert ist, und zehn Meter davon entfernt ein größeres Tor mit zwei eisernen Flügeln, deren gelbe Farbe abgeblättert ist.
    Annie stieg aus und öffnete die große Pforte, Mama fuhr hindurch und parkte auf dem Schotterplatz unter der riesigen Eiche. Der Rasen war lange nicht gemäht worden und sah aus wie ein Kornfeld, in dem der Hafer durch den letzten Regenguss platt gedrückt worden war. Die Apfelbäume trugen schon Früchte, und am See standen die Erlen mit ihren glänzenden Blättern. Man sah den Steg und das an Land gezogene Ruderboot, das an eine der Erlen gekettet war. Alles sah ungefähr so aus, wie ich es in Erinnerung hatte.
    »Sie sind noch nicht da«, stellte Mama fest und stieg ebenfalls aus. Sie knallte die Autotür zu und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
    Annie war schon unten auf dem Steg. Morgan öffnete den Kofferraum und nahm den Ball heraus. Als Mama und ich auf die Haustür zugingen, hatte Morgan schon mit dem Gekicke angefangen. Er hielt den Ball abwechselnd mit dem linken und rechten Fuß in der Luft, schoss ihn nach oben, fing ihn mit dem Rücken auf, ließ ihn zwischen den Schulterblättern zum Kopf rollen und über den Rücken zurückwandern.
    Mama hatte Schwierigkeiten mit dem Türschloss.
    Während sie daran herumfummelte, kam eine Katze über den Schotter spaziert. Sie war groß und grau gestreift und rieb sich an meinen Beinen.
    In dem Augenblick, als es Mama gelang, die Tür zu öffnen, schoss Morgan und traf mich in den Rücken. Es war ein harter Treffer, und mir blieb die Luft weg, ich sagte jedoch nichts. Die Katze verschwand, als wäre sie getroffen worden.
    »Schlaf nicht im Stehen ein!«, rief Morgan. »So wird nie ein Spieler aus dir.«
    Im März waren wir zur Beerdigung hier gewesen. Da waren noch alle Räume, außer der Küche, mit Linoleum ausgelegt gewesen. In der Küche hatte Großmutter es entfernen und die Holzdielen abschleifen lassen. Jetzt waren die Böden in allen Zimmern mit Öl eingelassen. Die dunklen Tapeten waren abgerissen, der Vorraum war schon neu tapeziert, weiß mit dünnen grauen Streifen. Die Decke war weiß gestrichen, und die Ausdünstungen von Tapetenkleister und Farben mischten sich mit dem Öl zu einem betäubenden Geruch.
    »Montag sind die Böden eingelassen worden«, sagte Mama.
    Wir betraten das, was unser neues Zuhause werden sollte. Vom Bootssteg rief Annie: »Ich geh schwimmen!« Und dann das dumpfe Aufprallen des Balles, den Morgan gegen die Hauswand donnerte.
    Das Wohnzimmer wirkte ohne Großmutters durchgesessene rostfarbene Sitzmöbel unendlich groß. Das Wandgemälde mit den nackten Frauen wirkte ohne die braune Tapete rundherum ganz anders. Mama ging zur Verandatür, öffnete sie, und ein leichter Wind strich über den Fußboden, vorsichtig, als fürchtete er, Spuren auf dem frischen Öl zu hinterlassen.
    »Das wird richtig gut«, murmelte Mama mehr zu sich selbst als zu mir. »Jetzt wollen wir mal sehen, ob sie mit der Küche fertig geworden sind.«
    Und sie ging mit quietschenden Gummisohlen Richtung Küche.
    Hinter mir riss Morgan die Haustür auf und stürmte dieTreppe zum Obergeschoss hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Oben dotzte der Ball auf dem Boden auf, und dann hörte ich, wie er das Fenster öffnete.
    Da schrie Annie.
    Es war ein lauter, schriller Schrei, so, wie Annie von Zeit zu Zeit schrie. Gleichzeitig klang er aber anders. Etwas musste passiert sein, und ich stürzte hinaus auf die Veranda und durch das hohe Gras zum Bootssteg, wo Annie nur in Unterhosen stand. Von ihren Haaren tropfte das Wasser. Den Rock, das Unterhemd und die Schuhe hielt sie eng an die Brust gepresst. Neben dem Steg dümpelten zweitausend Seerosen auf dem Wasser.
    »Eine Schlange!«, heulte sie.
    Mama rauschte an mir vorbei, pflügte sich durch das hohe Gras und nahm Annie in die Arme.
    »Hat sie dich gebissen?«
    »Es war eine graue mit Zickzackmuster. Ich bin draufgetreten, aber sie hat mich nicht gebissen!«
    Morgan lehnte sich aus seinem Fenster. Einen Moment sah es aus, als würde er hinausfallen, aber leider hielt er sich mit seinen riesigen Affenpranken fest.
    »Soll ich sie erschlagen?«, rief er.
    Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten.
    Als Annie sich auf die Veranda gesetzt hatte, hockte Mama sich neben ihre Füße und
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