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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut
Autoren: Torkil Damhaug
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der psychiatrischen Klinik von Gaustad vorbeischlängelte. Als älteste Einrichtung des Landes für Nervenkranke gab es sie bereits seit über einhundertfünfzig Jahren. Einst war ihre Großmutter dort eingesperrt gewesen, in den Monaten, bevor sie starb. Oder hatte sie selbst Hand an sich gelegt? Hatte sie ihr Bettlaken zu einem Tau zusammengebunden, es am Deckenhaken für die Lampe befestigt, sich eine Schlinge um den Hals gelegt und den Stuhl umgetreten? Niemand hatte je ein Wort darüber verlauten lassen. Was geschah, ist durch Schweigen getilgt worden. Was ist von ihr geblieben? Ein paar Schwarzweißbilder von einer hübschen Frau, die einen seltsamen, abwesenden Eindruck macht.
    Auf dem Fußweg zum Sognsvann war der Schnee noch tief. Liss bahnte sich ihren Weg hinunter. Hörte die Geräusche ihrer eigenen Schritte. Irgendwo blieb sie stehen und drehte sich um, betrachtete ihre Spuren in der Schneelandschaft. Bald sind sie verwischt, dachte sie, und dieser Gedanke verband sich mit einem anderen: Er fing mich auf, bevor ich aufschlug. Er hat mich hochgeworfen, doch mich kein einziges Mal fallen lassen.
    Als sie das Ende des Sees erreichte, hatte sie sich entschieden. Sie setzte ihren Weg nicht in Richtung Ullevålseter fort, sondern wandte sich nach rechts und überquerte den Parkplatz. Vor dem Eingang zur Sporthochschule blieb sie stehen und verschickte eine SMS .
    Drei Minuten später kam Jomar Vindheim die Treppe heruntergelaufen.
    »Tut mir leid, wenn du jetzt die Vorlesung verpasst«, sagte sie.
    Er blieb stehen und starrte sie mit offenem Mund an.
    »Ich dachte, du würdest gern mal einen Blick auf den einäugigen Troll werfen. Oder gehst du nicht gerne in Freakshows oder so was?«
    Er trat näher an sie heran. Zum zweiten Mal legte er seine Hand an ihre Wange. Jetzt ließ sie es geschehen.
    »Ich habe zwei Bitten an dich, Jomar.«
    »Ja«, sagte er.
    »Erstens: Nimm mich mit zu dir nach Hause und verhalte dich genau so, wie du es getan hättest, als wir neulich zum Essen verabredet waren.«
    Er blickte in ihr gesundes Auge. Vielleicht suchte er nach einem Code, der ihm die ganze Situation erklären konnte.
    »Liss …«, sagte er schließlich.
    »Das andere erzähle ich dir später«, unterbrach sie ihn. »Meine einzige Bedingung ist, dass du nicht über deinen Großvater sprichst. Nicht ein Wort.«
    Er war dünn gekleidet, trug nur ein T-Shirt, nahm sie jedoch in den Arm, als sei sie es, die gewärmt werden müsse.
     
    Sie stand nackt an seinem Wohnzimmerfenster im siebten Stock und versuchte, ein paar Konturen im grauen Einerlei auszumachen. An klaren Tagen hat man bestimmt einen weiten Ausblick, dachte sie. Über die Stadt und den Fjord, bis nach Drøbak, vielleicht noch weiter … Mailin hatte ihrer Mutter nichts von den Nächten in Lørenskog erzählt. Sie wollte sie schützen. Jetzt weiß niemand mehr, was geschehen ist, dachte Liss. Niemand außer dem, der damals fortfuhr und nicht zurückkam. Und mir, die nicht in der Lage ist, die Dinge ans Licht zu bringen … Sie musste weiterleben: mit dem, woran sie sich nicht erinnerte, und dem, was sie nie würde vergessen können.
    Sie hörte, wie Jomar aus dem Bett aufstand. Er kam zu ihr, umarmte sie von hinten. Von seinen Händen ging ein Geruch aus, der an Harz erinnerte, nicht zu süß, nicht zu stark. Sie konnte sich vorstellen, diese Hände zu mögen.
    »Die Krankenschwester hat vorgeschlagen, dass du meine Freundin wirst.«
    So etwas sagen Kinder zueinander. Sie musste lachen.
    »Sie meinte sicher, vorübergehend«, entgegnete sie.
    Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sie im grauen Licht.
    »Vieles verstehe ich an dir nicht, Liss. Aber das macht nichts, denn ich habe viel Zeit, um es herauszufinden.«
    Sie blickte zu Boden.
    »Ich wollte dich ja um zwei Dinge bitten«, sagte sie und verriet ihm, was sie noch auf dem Herzen hatte.
     
    Die Fahrt ins Zentrum dauerte fast drei Stunden. Mehrere Male fuhr er rechts ran, blieb an der Bordsteinkante oder an einer Bushaltestelle stehen und stellte den Motor ab. Starrte durch die Windschutzscheibe, während sie erzählte. Es war Abend geworden, als sie vor der Schranke zum Polizeipräsidium stehen blieben.
    »Ich komme mit rein.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Dann warte ich hier«, beharrte er und zeigte auf einen freien Parkplatz auf der anderen Seite der kurzen Straße.
    »Hast du denn gar nichts verstanden, Jomar Vindheim?«
    »Ich warte.«
     
    Die Frau hinter der Schranke war etwa in
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