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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut
Autoren: Torkil Damhaug
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sich mit einem Finger über den Nasenrücken.
    »Er kann nicht öfter als zwei, drei Mal bei Mailin gewesen sein, bevor sie plötzlich beschloss, die Behandlung abzubrechen. Ich habe sie gefragt, ob er sie bedroht hätte. Sie hat ziemlich ausweichend geantwortet. Da wusste ich, worum es ging.«
    Plötzlich spürte Liss einen gewaltigen Zorn in sich aufflammen.
    »Genau darüber hat sie ja geschrieben. Dass Menschen missbraucht werden, dass Kinder, die Nähe und Fürsorge brauchen, mit der Leidenschaft der Erwachsenen konfrontiert und ausgenutzt werden. Er ist zu Mailin gegangen, weil er völlig fertig war. Sie hätte ihm helfen sollen, anstatt mit ihm zu schlafen, verdammt!«
    Sie riss das Goldpapier von der Schokoladenkugel, biss sie in zwei Hälften und zerquetschte ihren weichen Kern zwischen Zunge und Gaumen.
    »Mailin hat die Behandlung ja sofort abgebrochen«, fuhr sie fort, nachdem sie sich beruhigt hatte. »Sonst hätte sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht. Und in dem Augenblick, in dem sie die Sache beendete, hätte er sie anzeigen können. Dann wäre sie vielleicht verurteilt worden und hätte nie wieder als Psychologin arbeiten dürfen. Von solchen Drecksäcken liest man normalerweise in der Zeitung. Wie konnte Mailin nur so was tun?«
    Dahlstrøm schien lange über diese Frage nachzudenken.
    »Wir alle machen Fehler«, sagte er schließlich. »Auch die Besten von uns. Manche Fehler können sehr schwerwiegend sein. Was wirklich in ihrer Praxis passiert ist, werden wir nie erfahren. Ich glaube, wir sollten die Sache auf sich beruhen lassen.«
    »Ich glaube, das kann ich nicht.«
    Dahlstrøm stand auf, schaute aus dem Fenster, die Dämmerung hatte eingesetzt. Er strich sich seine dünnen Haarsträhnen nach hinten, ging in die Küche, kam mit einer Kaffeekanne zurück und schenkte ihr erneut ein.
    »Mailin war gut. Sie hat vielen Menschen geholfen. Sie war ein warmherziger Mensch. Doch für dich, Liss, ist sie mehr als nur ein Mensch.«
    Liss blickte zu Boden und bedauerte ihre Worte.
    »Für dich verkörpert sie all das Gute im Leben. Du hast dieses Bild gebraucht. Vielleicht bist du jetzt an den Punkt gelangt, an dem du ohne Schutzengel weiterleben musst. Und vielleicht muss das so sein.«
    Es stimmte, was er sagte. Jedes einzelne Wort. Dennoch schüttelte sie den Kopf. Plötzlich fror sie.
    »Ich habe einen Menschen getötet.«
    Dahlstrøm beugte sich zu ihr vor.
    »Du hattest keine Wahl, Liss, wenn du überleben wolltest.«
    »Ich meine nicht Viljam. Ich habe jemand anders getötet.«
    Sie schloss die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde saß sie hoch über der Erde, ließ die Zügel los, wurde hochgeworfen und raste auf den Boden zu … Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Schließlich merkte sie, dass er sich wieder zurücklehnte.
    »Willst du mir das wirklich erzählen, Liss?«
    Darauf konnte sie nicht antworten, verstand jedoch, dass er ihr die Wahl überließ. Es konnte immer noch ungesagt bleiben.
    »Er hieß Zako und wohnte in Amsterdam. Wir waren irgendwie zusammen.«
    Sie sprach sehr schnell, als wolle sie sich rasch jeden Rückweg verbauen.
    Tormod Dahlstrøm entgegnete nichts. Er nippte an seinem Kaffee und stellte die Tasse so ruhig wieder ab, dass das Klirren des Porzellans nur unmerklich zu hören war.
    Sie wusste nicht, wie lange sie am Tisch saß und ihm alles erzählte. Sie fühlte sich wie betäubt. Ihr Körper war gefühllos, die Zeit stand still, nur ihre Stimme war allgegenwärtig. Sie fing mit dem Wichtigsten an. Dann begann sie erneut und ging mehr ins Detail, wobei sie nicht ein einziges Mal aufschaute. Wenn sie jetzt einem Blick begegnete, würde diese Geschichte sich gegen sie wenden und alles in ihr in Stücke schlagen.
    Als sie endlich schwieg, schlug er erneut die Beine übereinander. Sie sah seinen Fuß, der ein paarmal auf und ab wippte, zur Ruhe kam und erneut zu wippen begann.
    »Es klingt so, als wäre ich der Erste, dem du davon erzählst.« Sie spürte, dass sie nickte. Er war der Einzige, der Bescheid wusste. Wenn es einen einzigen Menschen gab, dem sie diese Macht einräumen konnte, dann war es Dahlstrøm. Erst jetzt begriff sie voll und ganz, warum sie zu ihm gekommen war. Seine Reaktion entschied darüber, was sie tun würde, wenn sie ihn wieder verließ.
    »Ich glaube, du erwartest dir keinen Rat von mir«, sagte er. »Es genügt, dass ich es weiß.«
    Sie versuchte zu erspüren, ob er recht hatte. Da vibrierte sein Handy, das auf dem Sekretär hinter ihm
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