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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut
Autoren: Torkil Damhaug
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Notizbuch auf ihren Nachttisch.
     
    Sie sitzt hoch über der Erde, den Kopf fast in den Wolken. Sie hält sich an seinen langen Haaren fest, die wie Zügel sind, doch sie kann nicht steuern. Plötzlich wird sie abgeworfen und segelt durch die Luft. Aber bevor sie auf dem Boden aufschlägt, wird sie von starken Armen aufgefangen und wieder auf die Schultern gesetzt. Sie schreit und bittet ihn aufzuhören, doch erneut wird sie durch die Luft gewirbelt und aufgefangen. Dies wiederholt sich immer und immer wieder, bis sie nichts anderes will, als dass es niemals aufhört.
    Das hätte ich in das Buch schreiben sollen, das du mir gegeben hast, Mailin. Und kein Wort von jener Nacht in Amsterdam. Denn dort hat es nicht angefangen. Alle Geschichten beginnen an einem anderen Ort. Vielleicht am Morrvann oder in einem Haus in Lørenskog, lange vor meiner Geburt. So kann ich damit leben: darüber zu schreiben, ohne es mit einem Wort zu erwähnen. Was geschah und was hätte geschehen können und was Dinge ins Rollen brachte. Schatten folgte auf Schatten, Ring auf Ring. Man steckt einen Finger ins Wasser und dreht ihn im Kreis. Irgendwo dort unten in der kalten Tiefe bin ich entstanden.
    Das Wandtelefon klingelte. Sie erkannte die Stimme der Krankenschwester.
    »Dein Freund ist am Telefon, soll ich ihn zu dir durchstellen?«
    Liss kniff das eine Auge zusammen, dann musste sie lachen.
    »Ich habe keinen Freund.«
    »Er sagt aber, dass er dein Freund ist.«
    Die Krankenschwester schien verwundert zu sein und stellte dann einfach durch. Es überraschte Liss nicht, Jomars Stimme zu hören.
    »Das ist ja wohl der Gipfel der Frechheit«, beschwerte sie sich. »Seit wann bin ich deine Freundin?«
    Sie konnte sein Grinsen förmlich hören.
    »Die Krankenschwester ist davon ausgegangen, und ich habe ihr nicht widersprochen. Sollen die Leute doch glauben, was sie wollen. Das funktioniert meistens am besten.«
    »Und wieso glaubst du, dass ich mit dir sprechen will?«
    »Ich muss einfach wissen, wie es dir geht.«
    Sie trug einen verschlissenen Trainingsanzug, den ihr Tage von zu Hause mitgebracht hatte. Die Beine waren zu kurz, und die Farbe hatte ihr mit sechzehn gefallen. Sie hatte sich nicht zurechtgemacht, war ungeschminkt und ihr halbes Gesicht mit einer Bandage umwickelt.
    »Jedenfalls gut, dass du nicht hierhergekommen bist«, sagte sie. »Ich sehe aus wie ein einäugiger Troll.«
    »Okay, dann warte ich bis morgen.«
    »Ich werde morgen entlassen.«
    »Ich kann dich abholen und nach Hause bringen.«
    Wo sollte das sein? Sie wusste ja gar nicht, wo sie hinsollte.
    »Du weißt bestimmt noch, was ich dir am Telefon gesagt habe.«
    »Jedes Wort«, versicherte er.
    »So bin ich eben, Jomar Vindheim. Ich mag dich, aber wir werden nie im Leben ein Paar.«
    »Das hast du jetzt schon hundertmal gesagt. Hörst du, wie ich gähne?«
    Das Geräusch, das er von sich gab, klang eher wie ein Schnarchen.
    »Ich hatte nichts dabei, als ich hier eingeliefert wurde«, sagte sie. »Also brauche ich auch niemand, der mich abholt.«
    Nachdem sie aufgelegt hatte, schrieb sie in das Notizbuch:
    Es gibt doch einen Menschen, dem ich erzählen kann, was in der Bloemstraat geschehen ist. Einer, der mir sagen kann, was ich tun soll. Vielleicht ist er derjenige, dem du auf dieser Welt am meisten vertraut hast, Mailin.
    Mittwoch, 21. Januar
    D ie Tür zu Dahlstrøms Büro war abgeschlossen. Liss klopfte an, wartete. Nichts geschah. Sie ging um die Ecke, an der Garage vorbei und die Treppe zum Haupteingang hinauf. Die Türklingel war ein Miniaturrelief einer Landschaft. Der Klingelknopf zwischen hohen Bergen, die sich in einen dunklen Himmel erhoben. Zwei tiefe Töne drangen aus dem Inneren des Hauses. Im selben Moment glitt die Tür auf. Das Mädchen, das vor ihr stand, konnte nicht älter als sechs oder sieben sein. Zwei dicke, braune Zöpfe hingen über ihren Rücken.
    »Du heißt Liss«, sagte sie.
    Liss nickte.
    »Hast du dein Auge verloren?«, wollte das Mädchen wissen. Sie trug Stiefel und eine rosa Daunenjacke und wollte anscheinend gerade nach draußen gehen.
    »Nicht ganz«, antwortete Liss und trat ein. »Aber du hast einen Vorderzahn verloren, wie ich sehe.«
    »Macht doch nichts. Da kommt ja ein neuer.«
    Das Mädchen sperrte ihren Mund auf und deutete auf einen weißen Rand, der durch das Zahnfleisch schimmerte.
    »Ich habe acht Zähne verloren«, erklärte sie und zeigte Liss ausführlich jede Stelle, an der einmal ein Milchzahn gewesen
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