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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut
Autoren: Torkil Damhaug
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Zeit vor sich hin geschlummert hatten, wurden mit einem Mal aufgewirbelt. Sie drehte sich zu Dahlstrøm um und hörte sich flüstern: »Jakka.«
    Sie blickte verstohlen zu ihm auf. Seine Gesichtszüge verhärteten sich, seine Augen wurden tief unter der Stirn zu schmalen Schlitzen.
    »Ja, das ist richtig.«
    Sie bekam nicht genug Luft. Viljam hatte niemals gesagt, dass Berger und Jakka ein und dieselbe Person waren. Das war ihre Idee gewesen. Viljam sagte, er wolle lieber sterben, als Jakkas Identität zu enthüllen. Dahlstrøms Blick war immer noch auf sie gerichtet. Sie schloss die Augen. Scham durchflutete sie. Bitte ihn um Entschuldigung, dachte sie. Dahlstrøm ist ein guter Mensch. Bitte ihn um Entschuldigung für das, was du denkst. Konnte sie von hier verschwinden, zur Tür hinauslaufen, ohne seinem Blick noch einmal zu begegnen?
Was bleibt von mir, Mailin?
    »Du hast mir eine Geschichte aus Amsterdam erzählt, Liss. Ein Fehler, den du gemacht hast, hatte schreckliche Konsequenzen. Ich habe dir bis zum Ende zugehört. Nun will ich, dass du mir bis zum Ende zuhörst.«
    »Wie lange lag er im Wasser, ehe er starb?«, murmelte sie.
    Sie hielt immer noch das Bild seiner Eltern in den Händen. Wagte nicht, es wieder hinzustellen.
    »Im Frühjahr vor dreizehn Jahren«, begann er, und aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass er ein wenig zusammensank, den Ellbogen auf die Anrichte stützte und seinen Kopf in die Hand legte. Sie wollte nichts hören, doch sie konnte sich nicht aus seinem Bann befreien.
    »Ich habe ihn aufgehalten, als er sich ertränken wollte. Ich habe ihn gerettet. Und er mich …«
    Gegenseitige Hilfe, dachte sie ungläubig. Nennst du es etwa so?
    »Du hattest Sex mit ihm«, presste sie hervor.
    Die Scham pulste immer noch in dunklen Wellen durch sie hindurch.
    »Nur ein paarmal. Behutsam und zu seinen Prämissen. Er war stolz darauf. Ich habe alles getan, um ihm zu helfen, Liss. Versteh das bitte. Er konnte nicht mehr zu mir kommen, aber er wollte die Beziehung nicht beenden.«
    In seiner Stimme nahm sie einen dunklen Unterton wahr. Von ihr konnte sie sich forttragen lassen, wohin er wollte. Bis zu einem Ort, an dem er sie festhielt. Sie hätte sich jetzt auf ihn stürzen, ihm seinen Willen lassen können. Oder mit einem Stein auf ihn einschlagen, bis er auf dem Boden lag, aus den Augen blutete und nie mehr aufstehen konnte.
    »Ylva Richter«, sagte sie. »Du wusstest, dass er sie getötet hat.«
    Er schüttelte langsam den Kopf.
    »Du musst mir glauben, Liss. Zu dem Zeitpunkt hatte ich keinen Kontakt mehr zu Viljam. Ich habe ihn acht Jahre lang nicht gesehen. Dann tauchte er eines Tages in meinem Büro auf. Er blieb an der Tür stehen, wollte sich nicht hinsetzen. Er stand an einem Abgrund und blickte hinab. Ich konnte ihn nicht behandeln, doch ich kannte jemand, der dafür geeignet war.«
    Sie klammerte sich mühsam an seine Worte.
    »Du hast ihn zu Mailin geschickt.«
    Erst jetzt hob sie den Blick. Die Falten auf seiner Stirn waren zusammengesunken, sein Gesicht wirkte grau und eingefallen.
    »Malin hat herausgefunden, dass du Jakka bist.«
    »Liebe Liss. Wenn du doch nur verstehen könntest …«
    Seine Stimme klang belegt. Der Drang war immer noch da, sich an ihn zu lehnen, in seine Arme zu sinken, sich davontreiben zu lassen. Doch dieses Gefühl verblasste zusehends, und das andere drängte sich in den Vordergrund. Ließe sie los, würde es den ganzen Raum ausfüllen und alles zunichtemachen, was sich ihm in den Weg stellte.
    »Hättest du Viljam nicht missbraucht, hätte er Mailin nicht getötet«, sagte sie, ohne die Stimme zu heben. Diese ruhige Konzentration ermöglichte es ihr, ihre Wut im Zaum zu halten. »Du hast Mailin umgebracht.«
    »Es gibt eine Grenze, inwieweit man einem anderen Menschen Schuld aufbürden kann, Liss. Überschreitet man diese Grenze, geht dieser Mensch unter. Solange ich aufrecht bin, kann ich vielen Menschen helfen. Wenn nicht, sind sie auf sich allein gestellt.«
    Sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter.
    »Du hast von deinem fatalen Fehler erzählt, Liss, und ich habe dir von meinem erzählt. Also können wir davon ausgehen, dass wir quitt sind. Das verbindet uns. Wir tragen gemeinsam das Joch, das uns aufgebürdet wurde.«
    Sie schaute ihn an. Fand weder Reue noch Trauer in seinem Blick. Und was er ihr anbot, war ohne jede Leidenschaft. Es war eine Partnerschaft. Er wollte mit ihr zusammen ein Unternehmen gründen. Eines, das Leichen verschwinden
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