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Himmelsgöttin

Himmelsgöttin

Titel: Himmelsgöttin
Autoren: Christopher Moore
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1
Der Kannibalenbaum
     
    Als Tucker Case aufwachte, mußte er feststellen, daß er mit dem Kopf nach unten an einem Seil aus Kokosfasern an einem Brotfruchtbaum hing. Er war zu einem Päckchen zusammengeschnürt. Hände und Füße vorne zusammengebunden, und er baumelte etwa zwei Meter über dem Boden. Unter großer Anstrengung hob Tucker den Kopf, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er konnte einen weißen Sandstrand erkennen, gesäumt von Kokospalmen, ein Feuer aus getrockneten Kokoshülsen, eine Hütte, die aus Palmwedeln errichtet worden war, und einen Pfad aus weißem Korallensplit. Vervollständigt wurde das Panorama durch das grinsende Gesicht eines braunhäutigen Eingeborenen.
    Der Eingeborene erhob eine Hand wie eine Klaue und kniff Tucker in die Wange.
    Tucker schrie auf.
    »Yamm«, sagte der Eingeborene.
    »Wer bist du?« fragte Tucker. »Wo bin ich? Wo ist der Seefahrer?«
    Alles, was der Eingeborene tat, war grinsen. Seine Augen waren gelb, seine Frisur ein wüstes Durcheinander aus Locken und Vogelfedern und seine Zähne schwarz und spitz zugefeilt. Er sah aus wie ein lederbezogenes Skelett mit Schmerbauch. Wülstige rosa Narben zierten seine Haut, und auf seiner Brust bildete eine Reihe davon die Silhouette eines Haifischs. Bekleidet war er lediglich mit einem Lendenschurz, der aus einer Pflanzenfaser gewoben zu sein schien und in dessen Hüftgurt ein gefährlich aussehendes Buschmesser steckte. Der Eingeborene tätschelte Tucker mit seiner schwieligen, aschebedeckten Handfläche die Wange, dann wandte er sich ab und ging davon.
    »Warte!« rief Tucker. »Laß mich runter! Ich habe Geld! Ich kann dich bezahlen!«
    Ohne sich umzusehen, trottete der Eingeborene weiter. Tucker wand sich in seinen Fesseln, doch erreichte damit nur, daß er sich langsam zu drehen begann. Dabei fiel sein Blick auf den Seefahrer, der bewußtlos ein paar Schritte entfernt hing.
    »Hey, lebst du noch?«
    Der Seefahrer gab keinen Mucks von sich, doch Tucker sah, daß er atmete. »Hey, Kimi, wach auf!« Keine Reaktion.
    Er zerrte an den Fesseln um seine Handgelenke, aber dadurch zogen sie sich nur noch fester zusammen, wie es schien. Nach ein paar Minuten gab er erschöpft auf. Er verschnaufte und schaute sich um, ob es irgend etwas gab, durch das sich diese bizarre Szenerie vielleicht erklären ließ. Warum hatte der Eingeborene ihn in einem Baum aufgehängt?
    Am Rande seines Blickfeldes nahm er eine Bewegung wahr, und als er sich danach umdrehte, sah er eine große braune Krabbe, die am Ende eines Seils zappelte, das an einem Ast festgemacht war. Da hatte er seine Antwort: Ebenso wie die Krabbe hingen auch sie in einem Baum, damit sie frisch blieben, bis sie verspeist wurden.
    Ein Schauder überlief Tucker, als er sich vorstellte, wie sich die schwarzen Zähne des Eingeborenen um sein Schienbein schlossen. Er versuchte sich krampfhaft darauf zu konzentrieren, daß es doch wohl möglich sein mußte zu entkommen, bevor der Eingeborene wieder zurückkehrte, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab, und alles, was ihm einfiel, war eine Flut von Erinnerungen an persönliches Versagen und verpaßte Möglichkeiten, und so überlegte er, an welchem Punkt die Welt sich endgültig gegen ihn gekehrt und in diesen Kannibalenbaum gehievt hatte.
    Wie die meisten selbstverursachten Desaster in seinem Leben hatte auch dieses seinen Ausgangspunkt in einer Bar.
    Die Lounge des Holiday Inn am Flughafen von Seattle war ein jagdgrünes mit Messingstreben und Eichenfurnier ausgestattetes Etablissement, das, hätte man die Bar weggelassen, haargenau aussah wie die Abteilung für Herrenoberbekleidung bei Macy's. Es war ein Uhr morgens, hinter der Bar stand eine stämmige Frau spanischer Herkunft und mittleren Alters und polierte die Gläser, während sie darauf wartete, daß ihre letzten drei Gäste endlich gingen, damit sie nach Hause konnte. Am Ende der Bar saß allein eine junge Frau in einem kurzen Rock und mit zu dick aufgetragenem Make-up. Ein paar Hocker weiter saß Tucker Case neben einem Geschäftsmann.
    »Lemminge«, sagte der Geschäftsmann.
    »Lemminge?« fragte Tucker.
    Sie waren betrunken. Der Geschäftsmann war eine schwergewichtige Erscheinung Ende Fünfzig in einem aschgrauen Anzug. Geplatzte Äderchen prangten auf seiner Nase und seinen Wangen.
    »Die meisten Leute sind Lemminge«, fuhr der Geschäftsmann fort. »Und deswegen sind sie zum Scheitern verurteilt. Sie benehmen sich wie Nagetiere mit einem
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