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Mehr Stadtgeschichten

Mehr Stadtgeschichten

Titel: Mehr Stadtgeschichten
Autoren: Armistead Maupin
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Herzchen und Blümchen
    Die Valentinskarte war ein selbstgemachter Mischmasch aus viktorianischen Engelsköpfen mit Flügeln, gepreßten Blumen und rotem Flitter. Mary Ann Singleton warf einen Blick darauf und quietschte vor Freude.
    »Mouse! Die ist ja vielleicht toll. Wo hast du nur diese entzückenden kleinen …?«
    »Mach sie mal auf.« Michael grinste.
    Als sie die illustriertengroße Karte aufklappte, sah sie eine Inschrift in Jugendstil-Lettern: MEINE GUTEN VORSÄTZE ZUM VALENTINSTAG. Darunter folgten zehn numerierte Leerzeilen.
    »Siehst du«, sagte Michael, »du sollst selber was reinschreiben.«
    Mary Ann beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm ein Küßchen auf die Wange. »Bin ich denn so verkorkst?«
    »Und ob. Ich verschwende meine Zeit doch nicht mit Leuten, die alles auf der Reihe haben. Willst du mal meine Liste sehen?«
    »Verwechselst du da nicht was mit Neujahr?«
    »Ach, das ist doch Kleinkram. Rauchen-Essen-Trinken-Vorsätze. Aber das hier sind … verstehst du … das sind die Hardcore-Vorsätze, die Vielleicht-diesmal-, Aufgeschoben-istnicht-aufgehoben-, Morgen-ist-auch-noch-ein-Tag-Vorsätze.«
    Er griff in die Tasche seines karierten Flanellhemds und gab ihr ein Blatt Papier:
     
    MICHAEL TOLLIVERS DRECKIGE DREISSIG FÜR 1977
     
Ich werde von keinem  sagen, daß er eine »Nellie« oder »butch« ist, wenn er nicht so heißt.
Ich werde Frauen, die mich mögen, nicht gleich zu Schwulenmuttchen erklären.
Ich werde die Hoffnung aufgeben, daß ich Jan-Michael Vincent in der Sauna treffe.
Ich werde Poppers nur durch den Mund inhalieren.
Ich werde im YMCA nicht länger als eine halbe Stunde unter der Dusche bleiben.
Ich werde mir nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, welche Farbe mein Signaltuch hätte, wenn ich eines tragen würde.
Ich werde irgendwann eine Tucke jenseits der Fünfzig zu einem Drink einladen.
Ich werde die stille Hoffnung aufgeben, daß sich alle attraktiven Männer als hirnlos und langweilig herausstellen.
Ich werde im Glory Holes mit meinem richtigen Namen unterschreiben.
Ich werde mich langsam wieder an die Religion herantasten, indem ich in der Grace Cathedral Konzerte besuche.
Ich werde mich dabei allerdings nicht an die Männer in der Grace Cathedral herantasten.
Ich werde bei der Wahl zur schwulen Miss San Francisco niemandem meine Stimme geben.
Ich werde mich mit einem Hetero anfreunden.
Ich werde mich nicht darüber lustig machen, wie er geht.
Ich werde ihm nichts von Alexander dem Großen, Walt Whitman oder Leonardo da Vinci erzählen.
Ich werde keinem Politiker meine Stimme geben, der den Begriff »schwule Gemeinde« benutzt.
Ich werde nicht flennen, wenn Mary Tyler Moore ihre letzte Show hat.
Ich werde meinen nicht abmessen, ganz egal, wer mich danach fragt.
Ich werde das Jacutin nicht mehr verstecken.
Ich werde kein Lacostehemd kaufen, kein Marimeckokissen, keine gebrauchte Ehrenjacke für Sportler, kein All-American-Boy-T-Shirt, keine Halskette mit Rasierklinge dran und schon gar nicht irgendwas aus Jeansstoff.
Ich werde lernen, alleine zu essen und es zu mögen.
Ich werde in meiner Phantasie nicht mehr mit Feuerwehrmännern rumspielen.
Ich werde zu Hause keinem erzählen, daß ich bloß noch nicht die Richtige gefunden habe.
Ich werde auf der Castro Street im Anzug herumlaufen und damit keine Schwierigkeiten haben.
Ich werde weder Bette Davis noch Tallulah Bankhead noch Mae West und auch nicht Paul Lynde nachmachen.
Ich werde pro Abend nicht mehr als ein It’s-It essen.
Ich werde mich ganz passabel finden.
Ich werde jemand Netten kennenlernen, und zwar weit weg von einer Bar oder der Sauna oder einer Rollschuhbahn, und ich werde mich hoffnungslos, aber ganz konventionell in ihn verlieben.
Ich liebe dich! werde ich aber erst sagen, wenn er es schon gesagt hat.
Den Teufel werd ich tun.
     
    Mary Ann legte das Blatt weg und sah Michael an. »Du hast dreißig Vorsätze. Warum darf ich nur zehn haben?« Michael grinste.
    »Du hast es nicht so schwer im Leben.«
    »Was du nicht sagst, du schwules Chauvischwein!«
    Sie rückte der Valentinskarte mit einem Flair-Filzstift zu Leibe und kritzelte die ersten vier Leerzeilen voll. »So, jetzt zieh dir das mal rein!«
     
Ich werde dieses Jahr den Richtigen kennenlernen.
Er wird nicht verheiratet sein.
Er wird nicht schwul sein.
Er wird nicht in Kinderpornos machen.
     
    »Aha«, sagte Michael mit einem verschmitzten Lächeln. »Du gehst also nach Cleveland zurück, hm?«

Auf ein neues
    Sie ging nicht nach Cleveland
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