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Schusslinie

Schusslinie

Titel: Schusslinie
Autoren: M Bomm
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    »Und welche Befugnisse haben wir?« Der Mann behielt sein Gegenüber
fest im Auge. Einige Sekunden lang schauten sie sich wortlos an. Nur der Verkehrslärm
drang in das Büro im achten Stockwerk, hoch überm Potsdamer Platz, zu ihnen herauf.
Durch die engmaschigen Vorhänge der Fensterfront zeichnete sich das Sony-Center
ab. Gegen die Scheiben peitschte Regen. Der Angesprochene griff zu seinem Krawattenknoten
und versuchte ein zaghaftes Lächeln. Obwohl es kühl war, schwitzte er. »Befugnisse«,
wiederholte er langsam. »Ich denke, Ihnen ist die Tragweite dieses Auftrags bewusst.«
Er lehnte sich in dem wuchtigen weißen Ledersessel zurück und verschränkte die Arme.
Der Fragesteller, der jenseits des Glastischchens saß, hatte sich ebenfalls ein
Lächeln abgerungen. Auch ihm war heiß geworden. Am liebsten hätte er sein Jackett
ausgezogen und den Krawattenknoten gelöst. Doch das geziemte sich nicht, solange
der Gastgeber an der Kleiderordnung festhielt. Seit zwei Stunden saßen sie in diesem
Büro, dessen weiße Wände nur durch ein riesiges, buntes und abstraktes Gemälde aufgelockert
wurden. Sie hatten angestrengte Gespräche geführt, sich konzentriert und gegenseitig
respektiert.
    Vor ihnen auf der Glasplatte lagen einige Schnellhefter.
Ihren Inhalt waren sie ausführlich durchgegangen, Punkt für Punkt, hatten Notizen
gemacht, Termine abgestimmt und Namen genannt. Die schweren Kristallgläser waren
leer, das Mineralwasser getrunken. Wieder trat eine dieser peinlichen Pausen ein,
wie so oft, wenn er, der an Jahren deutlich jüngere Besucher, eine Antwort erwartete.
Dann war nur das monotone Rauschen der Klimaanlage zu hören, bis plötzlich vier
Signaltöne eine SMS-Botschaft ankündigten. Der Gastgeber zögerte einen Augenblick,
griff dann aber in die Innentasche seines Jacketts und holte ein silbern glitzerndes
Handy heraus. Er drückte einige Tasten und las mit versteinertem Gesicht, was auf
dem Display stand: »Ich brauch dich noch heute.« Der Mann verzog keine Miene, drückte
die Nachricht weg und steckte das Handy wieder ein.
    Sein Gegenüber hatte die Szene wortlos verfolgt,
knüpfte dann aber an das vorausgegangene Gespräch an: »Sie dürfen mir glauben, Herr
Gangolf, dass ich mir der Tragweite bewusst bin.« Er zögerte. »Gerade deshalb stellt
sich mir die Frage nach den Befugnissen.«
    Der Ältere schlug bedächtig die Beine übereinander.
»Lassen Sie es mich so formulieren«, begann er im Stil weltmännischer Diplomatie,
»wenn man im Sinne einer guten Sache handelt, braucht man bei allem, was man tut,
kein schlechtes Gewissen zu haben.«
    Der Gast versuchte, die Nervosität zu verbergen.
»Und was gut ist …« Er sprach langsam
und betont, »… was gut ist, entscheiden Sie?«
    Pause. Wieder diese Stille, das Rauschen der
klimatisierten Luft. Irgendwo hupte ein Auto.
    »Gut ist, was uns allen dient«, erwiderte Ministerialdirektor
Harald Gangolf schließlich und bekräftigte: »Was uns und der Allgemeinheit dient.«
Er überlegte. »Viel zu lange ist dieses Land in Lethargie erstarrt. Nun liegt es
tatsächlich an Ihnen, eine Chance zu ergreifen, die uns sozusagen der Himmel beschert.
Und die es für uns beide kein zweites Mal geben wird.«
    Der Jüngere fühlte sich nun doch geschmeichelt.
»Ich werde mein Bestes geben. Aber ohne die vielen anderen bin ich machtlos.« Gangolf
nickte und wurde noch ernster: »Sie sollten aber eines nicht vergessen, Herr Liebenstein
– Sie haben zwar alle Rückendeckung dieser Welt. Alle.« Der Mann legte seine Arme
auf die ausladenden Sessellehnen und verzog sein Gesicht zu einer drohenden Miene.
»Sollte aber irgendetwas an die Öffentlichkeit dringen, wird Sie nach außen hin
niemand unterstützen. Ich nicht, der Kanzler nicht, der Innenminister nicht und
schon gar nicht der Justizminister – und auch keiner der Funktionäre. Ich hoffe,
wir haben uns verstanden.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Egal, wer bis dahin
hier an der Regierung ist.« Tatsächlich deutete alles darauf hin, dass es nach dem
Wahldebakel der Rot-Grünen in Nordrhein-Westfalen vorletzten Sonntag eine unerwartet
schnelle Änderung in der politischen Landschaft geben würde.
    Der junge Mann schluckte. Ihm wurde plötzlich
klar, was diese wenigen Worte bedeuteten: Man würde ihn intern zwar schützen, doch
wenn es notwendig sein sollte, musste er als Bauernopfer herhalten. Alle anderen
wollten sich die Hände in Unschuld waschen.
     
    Durch den Stuttgarter Hauptbahnhof
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