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Mond der verlorenen Seelen

Mond der verlorenen Seelen

Titel: Mond der verlorenen Seelen
Autoren: Elke Meyer
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Prolog
    L angsam glitt das Messer an ihrem Arm hinab und stoppte am Handgelenk, in dem ihr Puls raste. Sie betrachtete die blank polierte Klinge, auf der sich die Flammen spiegelten. Der intensive Geruch des Weihrauchs benebelte ihre Sinne.
    „Und jetzt tu es“, flüsterte eine Stimme, „tu es und warte nicht, sonst ist die Chance vertan.“
    Sie zögerte, Schweiß perlte von ihrer Stirn. Ihr Blick flog umher, über die Kuttenträger, die auf den Pentagrammen standen, bis er an dem Spiegel gegenüber hängen blieb. Ein bleiches Gespenst sah ihr entgegen, mit hohlen Wangen und weit aufgerissenen Augen, in denen ein fiebriger Glanz lag.
    „Tu es endlich“, drängte die Stimme.
    Ihre Hand zitterte, als sie mit der Klinge ihre Haut ritzte. Der Schnitt brannte und sie zog scharf die Luft ein. Blut quoll heraus, bildete ein Rinnsal und tropfte in die Schale auf dem Boden.
    „Mein Blut und meine Seele für die Vereinigung. Vassago. Vassago“, wiederholte sie mehrmals.
    Hinter ihr auf dem Druidenaltar lag der Fremde, mit zerzaustem Haar und geschlossenen Augen.
    Der Steinfußboden drückte sich schmerzhaft in ihre Knie. Die im Kreis aufgestellten Kerzen ließen Schatten an den Wänden tanzen. Hier in dem kalten Gewölbe fühlte sie sich wie in einer Gruft. Sie fror. Weiße Wolken schwebten nach jedem Atemzug aus ihrem Mund. Sie wandte den Kopf ab, denn sie konnte nicht zusehen, wie das Blut über ihren Arm rann und nach unten tropfte. Ihr wurde schwindelig von dem Geruch. Sie schwankte und wäre umgefallen, wenn eine Hand sie nicht gestützt hätte.
    „Genug.“ Eine Frau in schwarzer Kutte nahm ihr das Kurzschwert aus der Hand. „Steh auf und vollende, was begonnen wurde.“
    Wie in Trance erhob sie sich und griff nach der Schale. Mühsam unterdrückte sie die Übelkeit, die sie bei jedem Schritt überkam. Langsam trat sie auf den Altar zu, wo sie der Magier erwartete. Sein Gesicht lag tief verborgen in der Kapuze der weißen Druidenkutte. Er winkte sie voller Ungeduld heran.
    Kaum stand sie vor ihm, entriss er ihr die Schale und tauchte seine Hand ins Blut. Sie konnte die Sprache nicht verstehen, derer er sich bei jedem magischen Ritual bediente, während seine Hand einen Kreis mit einem Querstrich auf den nackten Oberkörper des Mannes malte.
    „Und jetzt reiche mir den Stab“, forderte er und deutete auf den Boden.
    Sie bückte sich und hob ihn auf. Es war der Stab, den sie selbst aus dem Haselnussbaum geschnitten, ausgehöhlt und mit Kupferdraht befüllt hatte. Sieben Tage hatte sie auf die Weihung warten müssen. Niemand außer ihr und dem Magier durfte ihn berühren. Aufregung schnürte ihre Kehle zu, und ihr Herz raste wie ein Trommelwirbel. Sie drückte dem Magier den Stab in die Hand, zuckte zusammen und kämpfte gegen das Zähneklappern, in ängstlicher Erwartung des Geschehens.
    Der Magier hob den Stab über seinen Kopf und rief: „Vereinigt euch!“
    Nichts regte sich, nicht einmal ein Muskelzucken im Gesicht des Fremden.
    Der Magier wiederholte die Worte mit dem gleichen Ergebnis. Als auch beim dritten Mal nichts geschah, ließ er mit einem Seufzer den Arm sinken.
    „Wir haben versagt.“ Enttäuschung schwang in seiner Stimme, und er schleuderte den Stab von sich.
    Noch immer lag der nackte Fremde bewegungslos auf dem Altar. Sie konnte es nicht hinnehmen, dass all ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt sein sollten. Vielleicht mussten sie nur länger warten? Irgendetwas musste doch geschehen.
    Sie beugte sich über den Fremden und lauschte seinen noch immer gleichmäßigen Atemzügen, welche die Befürchtungen des Magiers bestätigten. Die Magie hatte versagt.
    Sie hatte versagt.
    Ihr Hirn suchte nach einem Fehler beim Ablauf des Rituals, aber sie konnte keinen entdecken. Dann konnte es nur an ihrer Person liegen, an ihrer Angst, welche negative Energie verströmte und das Ritual störte. Sie erkannte es an den anklagenden Blicken der anderen. Sie wäre am liebsten im Boden versunken.
    Sie schloss die Augen und legte sich Worte der Rechtfertigung zurecht, als in diesem Moment etwas ihre Kehle zudrückte. Als sie die Augen öffnete, starrte der Fremde sie aus schwarzen Augen an. Die Züge des Mannes verschwammen vor ihren Augen. Die Konturen begannen sich zu verformen, als bestünde sein Gesicht aus einer knetbaren Masse, von unsichtbaren Händen modelliert. Spitze Zähne wuchsen aus seinem Mund und in seinen Augen blitzte Gier.
    Der Fremde verwandelte sich in einen anderen.
    Von Entsetzen
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