Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Papa

Papa

Titel: Papa
Autoren: Sven I. Hüsken
Vom Netzwerk:
[home]
    Kapitel 1
    E isige Finger strichen dem Mann über den Nacken und ließen ihn schaudern. Der Gedanke, die abgestorbene Haut seines alten Lebens bald abzustreifen, war aufregend. Beängstigend.
    Doch während er das eine Leben noch nicht ablegen konnte, gehörte ihm das andere noch nicht gänzlich. Vor ihm lag viel Arbeit.
    Mit zwei vollen Tüten und einem Spaten, der Ausbeute des heutigen Einkaufs, stand er vor seinem Haus, das er vor ein paar Tagen nach jahrelanger Abwesenheit wieder bezogen hatte.
    Ächzend setzte er alles ab, suchte den Schlüssel und verharrte damit vor dem Schloss. Er zitterte und zwang sich, ruhig zu atmen, dann schob er ihn hinein und drehte ihn um.
    Als er die Tür öffnete, schlug ihm ein muffiger Geruch entgegen. Aus den angrenzenden Zimmern drang gedämpftes Licht, das den Flurteppich alt und ausgeblichen erscheinen ließ. In diesem Haus wirkte alles ein wenig farblos, ausgewaschen und zu lange benutzt.
    Ein Gefühl, als wäre er noch nie hier gewesen, erfasste ihn und schüttelte ihn durch. Er musste sich erst daran gewöhnen, dass sein geregeltes Leben nun vorbei war.
    Er klemmte sich den Spaten unter einen Arm, schnappte sich die Tüten, schluckte den aufkommenden Ekel hinunter und setzte zögernd einen Fuß über die Schwelle.
    Es war immer schwer, ein neues Leben zu beginnen. Es gab so viel zu erleben, so viel zu sehen, so viele neue Dinge, die atemberaubend waren und doch gefährlich sein konnten. Nie wusste man vorher, was einen erwartete. Das machte einen Teil des Reizes aus. Hier würde das neue Leben seinen Anfang nehmen und das alte nach und nach aufzehren.
    Er trat hinter sich die Tür zu und ging in die Küche. Ein schwerer Vorhang hing vor dem Fenster und färbte das einfallende Licht rotgolden.
    Der Mann stellte die Einkaufstüten auf den Tisch, lehnte den Spaten an die Wand, zog den Vorhang zur Seite und öffnete das Fenster. Der Wind wehte kalte Luft herein, die er gierig einsog. Sie roch nach frischer Erde und Regen und sorgte für einen klaren Kopf.
    Die Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht, und für einen Moment schloss er die Augen. Das Leben konnte so gut sein. Besser als das Leben, das hinter ihm lag. Frei sein und der sein zu dürfen, der man sein wollte.
    Er atmete tief durch und packte die Tüten aus.
    Hoffentlich hatte er an alles gedacht.
    Der Himmel zog sich bereits zu. Dicke schwarze Wolken schoben sich vor die Sonne. Der Regen würde nicht lange auf sich warten lassen. Dieses Jahr hatte sich der Sommer eine Maske übergezogen.
    Der Mann schnappte sich die Tüte mit dem Kleinkram und stellte sie in den Vorratsschrank. Die Farben und Folien aus der anderen Tüte breitete er auf dem Tisch aus, auf dem eine dicke Staubschicht lag. Bis er den Dreck der Jahre, in denen er nicht hier gewesen war, beseitigt hatte, würde noch einige Zeit vergehen, vor allem, weil er gerade andere Dinge im Kopf hatte.
    Dein neues Leben zum Beispiel?
    Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ja, zum Beispiel mein neues Leben. Aber nicht nur das.
    Es klingelte. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo es herkam. Er blickte auf, verärgert, weil man ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. Etwas, das er nicht ausstehen konnte. Seit Jahren war er nicht hier gewesen, und kaum machte er etwas Licht, kamen die Insekten. Schade, dass es kein passendes Spray für unliebsame Nachbarn gab.
    Es klingelte erneut. Der Mann grunzte und ging auf den Flur.
    Durch das Milchglasfenster der Haustür sah er einen Schatten.
    Einen Augenblick lang dachte er daran, das Klingeln zu ignorieren, doch Nachbarn waren manchmal wie schlechte Gerüche. Selbst wenn man sie loswurde, bekam man sie häufig nicht mehr aus der Nase. Entweder ging man ihnen aus dem Weg, oder man arrangierte sich mit ihnen. Für Ersteres war es inzwischen zu spät.
    »Ja, ja, ich bin unterwegs«, rief er und ging zur Tür. Als er sie öffnete, starrte er in die Hundeaugen einer älteren Dame. Sie hatte sich in ein für dieses unbeständige Wetter viel zu dünnes Blümchenkleid gepresst.
    Ihr Mund formte sich zu einem breiten Lächeln. Auf ihren Schneidezähnen klebte ein dünner Film roter Lippenstift. »Das ist ja eine Überraschung. Nach so langer Zeit. Ich dachte noch, ich seh nicht richtig, der Herr Nachbar ist wieder da.«
    Er hob die Augenbrauen. Sein Blick wanderte zu dem rostigen Ford hinter ihr und wieder zurück. »Was hat mich verraten? Mein Auto oder meine beachtenswerte Performance als Tütenträger?« Er lächelte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher