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Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt

Titel: Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Autoren: Audur Jónsdóttir
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1. Dezember
    GESTERN HAT AXEL mir aus Scherz einen Adventskalender geschenkt. Er sagte, man müsse mich vor Weihnachten ein bisschen mästen.
    Diese Bemerkung amüsierte mich, schließlich war es noch keine drei Monate her, dass ich seinetwegen einen Yogakurs besucht hatte. Er hatte mir damals aus einem Wissenschaftsmagazin vorgelesen, in dem stand, dass viele Leute heutzutage unbewusst ein Gleichheitszeichen setzten zwischen der Kompetenz eines Menschen und seinem körperlichen Erscheinungsbild. Dicke wirkten demnach weniger erfolgreich als Schlanke; wer clever ist, schafft es auch, in Form zu bleiben.
    Findest du mich dick?, fragte ich ihn daraufhin.
    Du bist schlank, aber nach diesem Artikel sind Leute, die so leben wie wir, besonders gefährdet, antwortete er.
    Wie leben wir denn?
    Axel dachte einen Moment nach und sagte dann:
    Gedankenlos, würde ich sagen.
    Noch am selben Tag meldete ich mich für einen Anfängerkurs im Yogazentrum an, der speziell auf gestresste Frauen zugeschnitten war, und rannte dort gewissenhaft drei Monate lang vier Mal wöchentlich hin – bis zur letzten Unterrichtsstunde vorige Woche. Mit zweiunddreißig Jahren muss man schließlich etwas tun, um in Form zu bleiben, auch wenn meine Mutter immer noch Bohnenstange zu mir sagt.
    Yoga stärkt aber nicht nur den Körper, sondern auch die Seele, weshalb uns verboten wurde, ein schlechtes Gewissen mit uns herumzuschleppen. Denn allein dieses Gefühl, das wie ein rabenschwarzer Stahlklumpen in mir hin und her rutschte, wog schwerer als die Fettpolster aller Teilnehmerinnen zusammen. Es saugte die Lethargie geradezu an. Also lernten wir, damit umzugehen:
    Damit dein Bewusstsein sich erweitern kann, musst du alle Schuldgefühle loslassen. Du darfst ganz du selbst sein, atme diese Erkenntnis ein, tief tief tief, spüre, wie dein Bauch sich wölbt und dein Atem das Schambein berührt. Dann atmest du alle Angst aus aus aus, bis der Atem deine Schädeldecke berührt und du bereit bist, ein neuer Mensch zu sein – und dann, genau dann, atmest du dich selbst wieder ein.
    So unterwies meine Yogalehrerin Ágústa mich in beschwörendem Ton. Ihre Worte hatten eine derart einschläfernde Wirkung auf mich, dass ich am Ende jeder Stunde ganz benommen war.
    Ich hatte mich für diesen Yogakurs entschieden, nachdem ich auf der Homepage von Ágústa gelesen hatte, dass die Teilnehmerinnen unter ihrer Anleitung ein besseres Körpergefühl und mehr Energie bekämen. Und ich fühlte mich wirklich wie ein neuer Mensch, während ich stresszerfleddert auf der Yogamatte lag und der Kerzenschein tanzende Sonnenblumen auf meine Augenlider warf – nur verflüchtigte sich der Effekt zu Hause allzu schnell.
    Das schlechte Gewissen ist wieder da, als ich den Adventskalender öffne. Ich sperre den ersten Dezember so weit auf, dass ein Bommel von der Mütze eines kleinen Mädchens abreißt. Vor einem himmelblauen Hintergrund flitzen dick eingemümmelte Kinder auf einen Weihnachtsmann zu, während Schneeflocken zur Erde fallen. Unter der Bommelmütze des Mädchens verbirgt sich ein Schokoladenelefant, dessen Geschmack mich an vergangene Zeiten erinnert, als Mama ihre letzten Kronen zusammenkratzte, um mir einen Adventskalender zu kaufen. Die Schokolade passt gut zu meinem Morgenkaffee im tiefsten Winter; wenn draußen Schnee liegen würde, würde er im Mondschein schimmern wie das Meer im Sonnenschein. Doch heute liegt kein Schnee, und der Mond lässt sich nicht blicken. Finsternis liegt über der Welt und verschluckt dieses Land, in dem man sich sieben Monate des Jahres am liebsten von Schokolade ernähren würde, um das Hirn in Endorphinen zu ertränken.
    Aber eine erwachsene Frau erlaubt sich so was natürlich nicht. Wenn sie nicht den Anschluss verlieren will, muss sie ganz unverkrampft atmen, wie die Yogalehrerin es ihr beigebracht hat, und ihre Mitte finden. Also versuche ich, langsam ein-aus-ein-aus-ein-ausatmend, die Dunkelheit als leuchtende Farbe wahrzunehmen. Was spielt es denn auch für eine Rolle, ob das Dasein gelb ist oder schwarz?
    Doch offensichtlich ist es in meinem Innersten eher schwarz als gelb, ja, meine Welt ist finster, und ich stehe eine Viertelstunde vor Axel auf, nur um sie zu genießen: schlüpfe in meine Wollsocken, schleiche mich in die Küche, zünde die orangefarbenen Kerzen auf dem Esstisch an und koche Kaffee in dem flackernden Licht. Genieße es, einen siedend heißen Schluck zu nehmen, während der Kerzenschein in meinem Geist zu
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